Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
die Tür zu. Und Delgado kam nicht herein. Und wenn er sich auf den Kopf stellte.
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Anette Hultin brummte der Kopf, außerdem schmerzte ihr Rücken. Sechs Stunden saß sie jetzt über das Material gebeugt, Umzugskartons voller Aktenordner, eine akribische Buchführung über vierzig Jahre Wertpapierhandel und sonstige Ein- und Ausgaben, von 1950 bis Ende der Achtzigerjahre. In eigenwilliger, schwer entzifferbarer Handschrift verfasst. Ihr taten die Augen weh.
Sie war chronologisch vorgegangen. Es gab Hunderte Rechnungen, es gab Honorare für Artikel in biologischen Fachzeitschriften und anderen Journalen, es gab Ausgaben für Versicherungen und Reisen, aber vor allem gab es Aktien: mittelgroße Investitionssummen, kleines Risiko, niedrige, aber kalkulierbare Gewinnspannen. Holzhandel, Sägewerke, Papierfabriken, später auch Fischfang und Fischverarbeitung. Heringe in Gläsern, wie spannend! Ausnahmslos schwedische Aktiengesellschaften, ein durch und durch konservatives Anlageverhalten; abgewickelt worden waren die Geschäfte über verschiedene kleinere Stockholmer Banken. Dann, Ende der Sechzigerjahre, hatte sich Frosts Geschäftsverhalten leicht zu verändern begonnen, allmählich waren die Transaktionen internationaler geworden und hatten sich von Holz und Fisch auf Metall verlagert: Kupfer, Zinn, Silber, Gold.
Frost hatte mit Anteilen an Minen in Bolivien, Peru, Chile, USA, Kanada und auch in Afrika, vor allem im Kongo, gehandelt. Sein Vermögen war dabei langsam, aber kontinuierlich gewachsen, ohne dass er sein risikoarmes Vorgehen jemals geändert hatte; Frost war nie ein Zocker gewesen.
Dann kamen die Siebzigerjahre. Ein Jahrzehnt, das Hultin eigentlich nur aus der Retroecke bei H&M und aus Musikrevuen kannte, obwohl sie in dem Jahrzehnt geboren war. ABBA fiel ihr ein, natürlich. Agnetha und Frida in den unmöglichen Stiefeln. Vielleicht noch Nationalteatern oder Blå Tåget. Und Zusammen , der lustige Film von Lukas Moodysson über die Hippiekommune. Träumer und Spinner, dachte sie, Gott sei Dank war deren Zeit vorbei. Beim Durchblättern von Frosts Aufzeichnungen machte sich Hultin zum ersten Mal bewusst, dass ihr Bild von den Siebzigern sehr wenig mit dem normalen Leben der Menschen damals zu tun hatte. Disco, Dancing Queen und violette Satin-Plateaustiefel? Was hatte sie da eigentlich für ein blödes Bild im Kopf? So hatte doch kein Schwein gelebt, damals. Essen, Schlafen und Arbeiten, so sah die Welt doch aus! Oder, wie in Frosts Fall: Zahlenkolonnen, kaufen und verkaufen, genau wie heute, bloß in Schlaghosen. Sie blätterte weiter: 1976, Januar, Februar, März. Kleine Investitionen, kleine Gewinne, mal ein Verlust, aber nie tragisch. Dann Mai, Juni, Juli. Ob es ein warmer Sommer gewesen war in diesem Jahr? Ein schöner Mittsommerabend? August. September.
Zuerst dachte sie, es müsste sich um einen Kommafehler handeln. Dann las sie den Betrag auf der Überweisung ausgeschrieben. Vierhunderttausend Kronen! Frost hatte für vierhunderttausend Kronen Anteile an einer afrikanischen Goldmine gekauft. Damals musste das eine ganz schön große Menge Geld gewesen sein. Und die Summe war mehr als fünfmal so hoch wie alle anderen Investitionen, die bisher aufgeführt worden waren. Schnell blätterte sie weiter, überflog die Bilanzen, Summen, Kontoauszüge. Weiter, weiter, der Goldpreis stieg und stieg und stieg. Und plötzlich verkaufte Frost. Und kurz danach fiel der Preis für Gold in den Keller. 1982 war das gewesen. Sie pfiff lautlos durch die Zähne. Balthasar Frost hatte sein Vermögen innerhalb weniger Jahre vervierfacht. Er hatte das Geld in die Hand genommen und Bauland gekauft, Ufergrundstücke am Helgasee. Dort, wo heute die großen Villen standen. Manche Leute haben es einfach raus, dachte Hultin. Auf einmal hatte sie wieder das grässlich zugerichtete Gesicht des alten Mannes vor Augen. Es schüttelte sie. Eine Zweizimmer-Etagenwohnung in Teleborg tat es vielleicht auch.
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Als er wieder erwachte, waren Stunden vergangen, drei vielleicht oder fünf oder sieben. Das Licht, das durch das Fenster drang, war schwächer geworden, aber was bedeutete das schon zu dieser Jahreszeit? Die Schmerzen waren noch da, anders als vorher, wie ein Schwarm Motten, dachte er, schwarze Schmetterlinge, flatterndes Getier, das oberhalb seines Beckens, das neben seiner Wirbelsäule von seinem Fleisch zehrte. Er tastete nach der Wasserflasche auf der Anrichte. Seine Fingerspitzen berührten den Kunststoff, er
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