Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
konnte ihn fühlen, aber zugreifen konnte er nicht. Mit einem Ploppen landete die Flasche Ramlösa auf dem Holzboden, Ramlösa mit Birnengeschmack, ging es ihm durch den Kopf, und die bruchstückhafte Erinnerung an den Moment, an dem er das aromatisierte Getränk im 7-Eleven in der Bahnhofshalle gekauft hatte, fühlte sich so blass an wie an einen Geburtstag seiner Kindheit, ein Bild von einem verschwitzten Nachmittag und Tischtennisturnieren im Cola-Rausch. Und genauso weit weg war es auch. Alles, was im Leben geschah, rückte zusammen, wenn man es vom Ende aus betrachtete. Denn genau das war die Situation, in der er sich befand, so viel war ihm bewusst, das begriff er trotz des Fiebers, trotz der schwirrenden Tiere in seinem Leib. Hier, wo er war, wo er lag, in einer feuchten, zugigen Jagdhütte in einem beschissen großen, verfluchten Wald, war das Ende.
Er fiel wieder in einen gottlosen Schlaf.
10
Nyström sah aus dem Fenster. Es war erst früher Montagnachmittag, und dennoch hatte bereits die Dämmerung eingesetzt. Über dem Imbiss und dem Parkplatz kreisten die Krähen. Dann flogen sie über das Dach des Kinos hinweg Richtung Norden, schnell hatte der graue Himmel sie geschluckt.
Für sechzehn Uhr hatte sie eine Besprechung angesetzt, sie wollte zusammentragen, was sie seit gestern herausgefunden hatten. Sie stellte sich vor ihr Flipchart. In die Mitte des großformatigen Papiers zeichnete sie mit dem Marker einen Schmetterling. Unter den Falter schrieb sie den Namen des Toten, das Alter des Opfers und den von Ann-Vivika Kimsel ermittelten Todeszeitpunkt. Im Zentrum von allem stand ein Mann, der Schmetterlinge gezüchtet hatte und Frost hieß. Er stammte aus England, aber er lebte seit fünfzig Jahren in Schweden. Sie zog eine Linie von der Mitte zum linken Rand des Papiers. An das Ende dieses Strichs schrieb sie das Wort Vergangenheit , dahinter machte sie ein Fragezeichen. Weitere Striche widmete sie den Personen, die bis jetzt in der Ermittlung aufgetaucht waren.
Frederik Axelsson, ein guter Freund des Toten, gleichzeitig derjenige, der Frost gefunden hatte.
Mona Wedén, die Chefin von Veteranen .
Marianne Wettergreen, die Pflegekraft, die Agentin , die sich oft um Frost gekümmert hatte.
Melin Dohuk, ein Taxifahrer, der sich zum Zeitpunkt der Tat in der Nähe des Hauses aufgehalten hatte.
Die Erlandssons, die Nachbarn, die das Taxi bestellt hatten.
Helga Engblom, die verwirrte Nachbarin, die Lars Knutsson die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte.
Joachim Haber, der Frost bei mehreren öffentlichen Veranstaltungen bedroht hatte.
Eine weitere Linie zeichnete Nyström für die Freundin in Frosts Leben, von der sie überzeugt war, dass es sie gab oder gegeben hatte, von der aber bis jetzt jede Spur fehlte. Hinter das Wort Freundin malte sie drei Fragezeichen. Weitere Striche bekamen die Punkte: Finanzen, Familie, Freunde, Feinde und Modus Operandi . Jedes der Wörter wurde mit einem Fragezeichen versehen. Hinter den letzten Begriff schrieb sie in einer anderen Farbe Grausamkeit, Augen, Finger und Rache???. Dann legte sie den Marker beiseite und betrachtete das Resultat ihrer Bemühungen. Zufrieden klappte sie das dreibeinige Flipchart zusammen und trug es in den Konferenzraum.
11
Bo Örkenrud, der Leiter der Kriminaltechnik, lehnte seinen mächtigen Körper weit in den Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Das Holz ächzte. Lautstark gähnte er und ließ sich krachend wieder nach vorne fallen.
»Das war eine anstrengende Nacht, die wir da draußen hatten«, sagte er. »Anstrengend und interessant. Und ein langer Tag im Labor. Aber wem sage ich das?«
Nyström wusste, dass der Kriminaltechniker mit den Leuten seines Teams seit Sonntagmorgen durchgearbeitet hatte. Örkenrud stand auf und trat nach vorne neben das Flip-chart, auf das er einen Grundriss des Glashauses heftete. Er sah in die Runde der versammelten Ermittler.
»Zunächst einmal haben wir den Tathergang untersucht, wobei sich unsere ersten Annahmen weitgehend bestätigt haben. Im Tropenhaus hat ein Kampf stattgefunden, und zwar hier, wenige Meter hinter dem Fischbassin.«
Er deutete mit einem Zeigestock auf die Grundrisszeichnung.
»Wie ihr euch vielleicht erinnert, gab es Blutspuren an einem Pfeiler, und zwar in Kopfhöhe, wo das Opfer eine Platzwunde hatte. Von dort wurde Frost zwei, drei Schritte weitergedrängt, zu den Beeten mit Setzlingen. In diese ist er gefallen oder geschubst worden. Und dann ist das
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