Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
leiten haben.«
11
Dass Bo Örkenrud am vierten Tag der Ermittlung überhaupt zum Tatort zurückgekehrt war, war allein seiner Gewissenhaftigkeit zu verdanken. Normalerweise kam die Spurensicherung einmal, machte ihre Arbeit und übergab dann die Ergebnisse an das Ermittlungsteam. Aber dieser Fall war anders, in vielerlei Hinsicht. In dem Schmetterlingshaus war etwas geschehen, was Örkenrud keine Ruhe ließ, und das hatte mit den Schüssen zu tun, die dort abgegeben worden waren. Zwei Schüsse, aber nur ein Projektil. Sollte die fehlende Kugel tatsächlich im Körper des Täters stecken, oder hatten sie etwas Wesentliches übersehen? Örkenrud war sich unsicher. Und bevor er seinen abschließenden Bericht fertigstellte, wollte er zu hundert Prozent ausschließen, dass jemand aus seinem Team gepatzt hatte. Gerade die jüngere Kriminalgeschichte war voll mahnender Beispiele, wie forensische Missgeschicke ganze Ermittlungen an die Wand gefahren hatten. In ihrer Fortschrittsgläubigkeit neigten Techniker gelegentlich dazu, ihr eigenes Hirn abzuschalten, dachte Örkenrud. Deshalb war er noch einmal hergekommen, um ein bisschen gute, alte polizeiliche Handarbeit auf allen vieren zu verrichten, sein Rücken würde es ihm danken. Dieses Mal hatte er sich besser auf die Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit im Schmetterlingshaus vorbereitet: Er kletterte in Unterhose in seinen weißen Kunststoffoverall – wer sollte ihn hier draußen schon sehen? –, und in seinem Arbeitskoffer warteten drei eisgekühlte Flaschen Spendrups darauf, hervorgeholt zu werden, alkoholfreie natürlich.
Örkenrud arbeitete konzentriert mit seinen Gerätschaften, skizzierte Bewegungsabläufe, rekonstruierte die Schussbahnen, maß Abstände und Winkel. Zu neuen Erkenntnissen kam er jedoch nicht. Er fand im Glashaus keine weitere Einschussstelle, das zweite Projektil blieb verschwunden. Nach gut zwei Stunden entschied er, Feierabend zu machen. Er war keineswegs unzufrieden, bewies seine ergebnislose Suche doch, dass sein Team beim ersten Mal ordentlich gearbeitet hatte. Verschwitzt trat er aus dem Tropenhaus, um sich abzukühlen, und trank in langen Zügen ein Spendrups. Nach der anstrengenden Arbeit in der feuchten Wärme tat die frische Luft gut. Spontan entschied er, als Letztes noch einmal alle Seiten des Glashauses von außen in Augenschein zu nehmen, besonders an den Stellen, an denen ihm innen das dichte Blattwerk der Pflanzen die Sicht erschwert hatte. Örkenrud arbeitete sich zunächst an der dem Wohnhaus zugewandten Längsseite entlang, dann an der kurzen Rückseite des Glashauses, an dem die Generatoren vor sich hin brummten. Plötzlich sah er, dass etwas nicht stimmte. Was seine Tatorte anging, hatte er ein Gedächnis wie ein Kind beim Memoryspiel. Vor ihm, wo der Boden wegen der Wärmeabgabe der Generatoren nicht gefroren war, waren Abdrücke, faustgroße Mulden, zwei an der Zahl, direkt nebeneinander, tief in die Erde gedrückt: Knieabdrücke. Örkenrud spürte Wut in sich aufsteigen. Welcher Idiot aus seinem Team hatte ...? Doch dann verstand er: Da war niemand unachtsam gewesen, da hatte kein Kollege Mist gebaut. Es war jemand hier gewesen, zweifelsfrei, beim Schmetterlingshaus, und hatte sich vor die Glaswand gekniet. Und zwar nachdem sie am ersten Tag den Tatort gesichert hatten. Örkenrud spürte den Plastikoverall an seiner nackten Haut kleben, und sein Hals war trocken. Den Koffer mit den Instrumenten hatte er neben sich abgestellt. Er beugte sich tief über die Abdrücke. Da, wo sich das linke Knie in den Boden gedrückt hatte, schimmerte etwas durch die dunkle, feuchte Erde. Ein Kieselstein? Das zweite Projektil? Sofort hatte Örkenrud die lange Pinzette zur Hand. Trotz der kühlen Luft lief ihm Schweiß über das Gesicht, sein Körper schwamm in dem Kunststoffanzug, jede Bewegung quietschte. Es war kein Kieselstein, den er da aus der Erde zog, und auch kein Projektil. Das, was er vor sich hatte, war ein abgeschnittener Finger.
12
Forss ging den Weg zurück, den sie gekommen waren, bis sie wieder in dem langen, hohen Flur angelangt war. Wenn sie irgendetwas von Interesse finden wollte, dann musste sie die Bühne, auf der Hildegard Hedingks’ Schauspiel stattfand, verlassen. Wahllos öffnete sie Türen, die von der Galerie abgingen. Hinter der ersten Tür fand sie die Garderobe. Neben ihrem Loden- und Nyströms Daunenmantel hingen diverse Pelz- und Wollmäntel. Sie machte die Tür wiederzu. Hinter der nächsten Tür befand sich
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