Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Acker in Småland keine Ruhe lässt.«
Wenn es etwas in Hedingks auslöste, zeigte sie es nicht. Die einzige Bewegung, die Nyström wahrnahm, war eine pulsierende Ader an ihrem langen Hals. Die Frau mit den stahlgrauen Augen sah sie an. Ein Eisberg.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Sie sprechen. Mit Homosexuellen pflege ich im Allgemeinen keinen Umgang, und ich kann Ihnen auch nicht sagen, welche Paparazzi sich auf der Beerdigung meines Vaters herumgetrieben haben, das ist beinahe vierzig Jahre her. Wir sind eine Familie, die im öffentlichen Interesse steht und immer gestanden hat. Die führenden Zeitungen des Landes haben über den Tod meines Vaters berichtet. Er war ein großer Mann. Das Foto kann also von überall und nirgends her stammen. Falls dieses Bild überhaupt während der Beerdigung meines Vaters aufgenommen wurde. Ich erkenne hierauf nämlich, ehrlich gesagt, gar nichts.«
Hildegard Hedingks schob das Foto auf dem Korbtisch mit der Glasplatte zurück. Forss hatte sie bis jetzt mit keinem Blick gewürdigt.
Nyströms Stimme war ruhig, und sie ignorierte die ungewöhnliche, formale Anredeform, die Hedingks benutzte: »Dieses Foto ist im Zusammenhang mit einer Mordermittlung aufgetaucht. Das Opfer heißt Balthasar Frost, genau genommen Balthasar Melchior Frost, wie du mich gestern Abend in deinem Schreiben belehrt hast. Woher kennst du seinen zweiten Namen? In meinem Fax stand er nicht.«
Die schmalen Lippen der alten Frau verzogen sich um einen Deut, ihr Kinn hob sich um Millimeter. Nyström war sich nicht sicher, ob es ein Lächeln darstellen sollte.
»Balthasar Melchior Frost. Was für ein Name! Prätentiös. Albern beinahe. Man könnte meinen, ein Komiker hieße so. Und sollte ich wirklich dem Balthasar ein Melchior angefügt haben? Ach, da muss wohl ein Gaul mit mir durchgegangen sein, freie Assoziation, sozusagen, da fehlt nur noch der Caspar, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, ob das an meinen Medikamenten liegt?«
Sie lächelte jetzt breiter. Aufgesetzt, fand Nyström. Sie fühlte den Spott, der ihr entgegenschlug. Doch sie spürte, dass es hinter dem Spott und der Herablassung eine Mauer gab, und sie musste wissen, was sich hinter dieser Mauer befand. Der größte Teil eines Eisbergs, der gefährliche Teil, befindet sich unter der Wasseroberfläche. Da, wo man ihn nicht sehen kann.
»Was kannst du uns über deinen Bruder erzählen?«
Hildegard Hedingks zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. Sie befeuchtete sich die Lippen mit der Spitze ihrer Zunge.
»Meine liebe Kommissarin Nyström, wie ich Ihnen gestern bereits dargelegt habe, gehe ich davon aus, dass selbst Sie auf Ihrem – wie Sie es formulieren – südschwedischen Acker Zugang zu landesweiten Polizeiarchiven haben. Sie wissen demnach genauso gut wie ich, dass mein Bruder Johan seit beinahe sechzig Jahren vermisst wird, ein Verlust, der die Familie und insbesondere mich, seine jüngere Schwester, sehr schwer getroffen hat. Und ich verstehe beim besten Willen nicht, warum Sie mein Schreiben nicht ernst genommen haben und mit Ihrer Assistentin quer durch Schweden fahren und mich alles noch einmal wiederholen lassen! Dass ich einen Namen, der mir vorher noch nie begegnet ist, falsch geschrieben habe, mag wohl kaum als Rechtfertigung ausreichen!«
Hedingks’ Unterlippe zitterte. Erst Herablassung, dann Spott, jetzt also Empörung. Nach der Attacke folgte der Rückzug, aber das durfte Nyström nicht zulassen. Sie brauchte einen neuen Haken, eine längere Leiter. Dass Forss neben ihr aufstand und etwas von Toiletten nuschelte, bekam sie nur am Rande mit. Sie musste über die Mauer, hinter der sich die alte Frau versteckte.
»Nichts liegt mir ferner, als deine Gefühle zu verletzen oder in alten Wunden herumzustochern. Und ich wünschte, ich hätte nicht drei Stunden Zug fahren müssen, um dich mit Schatten aus der Vergangenheit zu bedrängen. Leider bringt es mein Beruf mitunter mit sich, dass ich mit Menschen über sehr private Dinge sprechen muss, manchmal auch über Dinge, die wehtun. Dieser Mordfall, in dem wir ermitteln, ist sehr rätselhaft und verwirrend. Wir haben Indizien dafür gefunden, wo und wie dein Bruder in den vergangenen sechzig Jahren gelebt hat. Nachdem er verschwunden ist. Und natürlich hast du recht, ich kenne die Akten. Die Frage, die uns zu dir geführt hat, ist im Grunde ganz einfach.«
Nyström war jetzt eine einfühlsame Polizeibeamtin. Sie sprach sanft zu der alten Dame, von Frau zu
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