Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
in Kontakt zu Frost gestanden hatte, sie wusste also vom versteckten Leben ihres Bruders. Die Frage war nur, seit wann? Und wenn sie über Johans Leben mit Balthasar Frost Bescheid wusste, warum hatte sie dann nie die Vermisstenanzeige zurückgezogen? Wollte sie Johan schützen? Oder den Ruf ihrer Familie? War es denkbar, dass sie etwas über den Mord an Frost wusste, oder kam sie gar als Täterin infrage? Nyström und Forss waren sich unsicher, wie sie Hedingks bewerten sollten, aber Nyström hatte das vage Gefühl, dass sie nicht zum letzten Mal in dem herrschaftlichen Haus am Sund gewesen waren.
Als sie den Parkplatz vor dem Polizeigebäude erreichten, war es bereits kurz vor fünf. Der Ausflug nach Stockholm hatte sie beinahe einen ganzen Ermittlungstag gekostet. Vor dem benachbarten Kino und im Foyer stand eine Traube Menschen, die auf den Beginn der frühen Abendvorstellung wartete, Jugendliche bewarfen einander mit Popcorn, ein junges Mädchen mit hohen Stiefeln und kurzem Rock kreischte laut auf. Forss verabschiedete sich und ging in ihr Hotel hinüber, Nyström wollte noch in ihr Büro, um die Ermittlungsergebnisse des Tages zu verschriftlichen und die Nachrichten durchzugehen, die sich im Laufe des Tages auf ihrem Schreibtisch und in ihrem E-Mail-Account angesammelt hatten.
Unten in der Rezeption hatte Per Rydberg Dienst. Sie nickte dem jungen Polizisten zu. Im Herbst hatte sie in der Kantine ein Gespräch zwischen Delgado und Knutsson mitbekommen, in dem sich die beiden mit gedämpften Stimmen über Rydbergs vermeintliche Homosexualität unterhalten hatten.
»Dass er schwul ist, sagt er jedem, der es wissen will«, hatte Delgado geflüstert.
»Oder auch nicht wissen will!«, hatte Knutsson mit vollem Mund geantwortet.
Dann hatten beide gelacht, ein dämliches, pubertierendes Lachen, wie Nyström gefunden hatte. Normalerweise bemühte sie sich, das Getratsche der Kollegen und die Gerüchteküche des Reviers zu ignorieren, aber dieses Gespräch war bei ihr hängen geblieben. Rydberg winkte sie zu sich. Sie betrachtete den Mann genauer. Er hatte eine moderne Kurzhaarfrisur und einen gepflegten Bart, wie er im Moment Mode war. Er sah aus wie die anderen jungen Männer auf der Wache auch. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Nagellack? Lippenstift? Sie schämte sich für ihre blöden Vorurteile.
»Es gab diverse Anrufe für dich.«
Der junge Mann reichte ihr einen Zettel mit Notizen. »Danke, Per.«
»Nichts zu danken.«
Der junge Mann lächelte. Sie lächelte zurück. Sie gab sich einen Ruck.
»Ach, da ist noch etwas, was ich dir sagen möchte.«
Rydberg sah sie fragend an.
»Ich will dir nur mal sagen, dass ich es sehr mutig von dir finde, dass du ... dass du zu deiner Homosexualität offen stehst. Gerade hier, gerade als Polizist. Ich finde es gut. Dass du schwul bist.«
Es war ihr unangenehm, wie holperig ihr die Wörter über die Lippen kamen. So, als stolperten sie. Rydberg sah sie einen Moment an. Er lächelte jetzt nicht mehr.
»Ich weiß nicht, ob es gut ist. Für mich ist es eher normal . Vielleicht ist das der richtigere Ausdruck.«
Nyström biss sich auf die Unterlippe. Dann drehte sie sich verlegen um und verließ das Gebäude. Draußen atmete sie tief durch und beschloss, dass es vielleicht das Beste sei, einfach nach Hause zu fahren und sich die Decke über den Kopf zu ziehen.
16
Maria lag in dem abgedunkelten Haus und lauschte den Geräuschen der Nacht. Dem Kratzen der Mäuse auf dem Dachboden und dem Rascheln des Windes in den blattlosen Zweigen. Manchmal tutete das Horn der großen Schiffe in den Schären. Sie sehnte sich nach Simone und ihren weichen Umarmungen, nach Amsterdam und dem vertrauten Brackgeruch der Grachten. Doch noch war sie für die Heimreise viel zu schwach, an einen Aufbruch war nicht zu denken. Die Wunde brannte, die Fieberschübe und die Schwere ihrer Schuld drückten sie tief in das Bett. Und dann war da die Angst. Wer war der Mann, der wie aus dem Nichts im Schmetterlingshaus aufgetaucht war? Wer war der Irre, der auf sie geschossen hatte?
DONNERSTAG
1
Fünf Stunden Schlaf gestand sich Nyström zu. Dann klingelte der Wecker. Sie kämpfte sich aus dem Bett, aus der warmen Mulde, in der sich Anders’ Körper hob und senkte. Er ist beständig wie Ebbe und Flut, dachte sie. Ein Gefühl von Zärtlichkeit brandete durch ihren Körper. Sie deckte den frei liegenden Rücken ihres Mannes zu und ging aus dem Schlafzimmer, die Treppe hinab in die Küche.
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