Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Forss trat den Stuhl beiseite, stieg über den liegenden Körper und sprang mit den Knien voran auf Bingströms Schultern. Bingström schrie vor Schmerz auf. Das war ein Fehler. Forss rammte den Lauf der SIG Sauer tief in Bingströms geöffneten Mund. Seit sie den Raum betreten hatte, waren keine fünf Sekunden vergangen. Mit einem Klicken entsicherte sie die Waffe und drückte sie noch tiefer in Bingströms Rachen.
»Rede mit mir«, sagte sie leise.
Bingströms Kopf bewegte sich. Zitterte. Oder war es ein schwaches Nicken? Forss zog langsam die Pistole aus Bingströms Mund und lockerte den Druck auf seine Schultern. Der Lauf der Waffe war feucht. Bingström hustete blutige Spucke aus und etwas, das wie ein Teil einer Zahnfüllung aussah.
»Okay«, flüsterte er mit heiserer Stimme. »Okay.«
11
Jerusalem, den 18.10.1948
Geliebter Freund!
Ich weiß kaum, mit welchen Worten ich beginnen soll, mein lieber, mein geliebter Johan, denn du musst mich seit vielen Wochen für vermisst, für tot halten. Und so bin ich voller Angst und Sorge, dass dir meine Zeilen wie ein makabrer, böser Scherz oder wie ein geisterhafter Gruß aus dem Reich der Toten vorkommen müssen. Aber, bitte, sei versichert: Dem ist nicht so! Ich lebe, Johan, aller Vernunft und Wahrscheinlichkeit zum Trotz lebe ich. Und wie gerne hätte ich dir diese frohe Botschaft früher überbracht, wenn ich nur gekonnt hätte! Aber wie sollte ich?
Glaub mir, ich bin dem Tod näher gewesen, als ich mir jemals vorstellen konnte. Über Wochen habe ich in einem tiefen Koma gelegen, mein Körper war fiebrig, mein Bewusstsein an einem dunklen Ort. Und hätten die Mönche hier im Armenischen Hospiz nicht Tag und Nacht um meine Lebensflamme gekämpft und hätte der brave Doktor nicht die Kugeln aus meinem Arm und meiner Schulter entfernen können, dann wäre ich wohl schon auf der anderen Seite. Gott hat mir eine weitere Chance gegeben. Und nicht nur das, er weist mir auch einen Weg zurück zu dir, mein Geliebter, einen Weg zurück aus diesem heiligen und doch unseligen Land, einen Weg, der vielleicht steinig und gefährlich ist, der aber am Ende unser beider Glück bedeuten kann. Denn jetzt, wo der Graf von diesen Fanatikern getötet wurde und mich die ganze Welt ebenso für tot hält, was hält mich hier noch?
Ich weiß, dass deine Familie, dass dein Vater alles tun würde, um unser Zusammensein erneut unmöglich zu machen. Deshalb wäre es dumm, wenn ich als der einzige Überlebende des Attentats, wenn ich als der Held Henrik Larsson mit Glanz und Gloria nach Schweden zurückkehren würde. Glaube mir, die Zeitungen würden ein Ereignis daraus machen, es als das Wunder feiern, das es ja vielleicht ist. Aber wir dürfen uns diese Aufmerksamkeit nicht erlauben, mein Geliebter! Nicht solange dein Vater unserer gemeinsamen Zukunft so uneinsichtig und hasserfüllt gegenübersteht.
Es gibt einen anderen Weg, Johan, einen weitaus klügeren.
Wie gerne würde ich dir sagen, wie dieser Weg aussieht, aber glaube mir, genau das würde alles gefährden. Denn wie kann ich sicher sein, dass du diese Zeilen als Erster und als Einziger liest? Dein Vater ist ein einflussreicher, misstrauischer Beschützer, und auch wenn er mich für
tot hält, so wird er doch weiterhin bemüht sein, alles Verführerische, alles, was er als Bedrohung ansieht, von dir fernzuhalten. Deshalb will ich kein Risiko eingehen und Einzelheiten meines Plans preisgeben. Ich kann dich nur bitten, mir erneut dein Vertrauen zu schenken. Sei gewiss, ich werde in absehbarer Zeit wieder in Schweden sein. Wie und wann genau, das muss vorerst mein Geheimnis bleiben. Nur so viel möchte ich dir verraten: Die Lösung für unser Problem liegt in der Nähe.
Geliebter Johan, vertraue mir und warte auf mich! Ich verzehre mich so sehr nach deinem Anblick, deinen Berührungen, deinen Küssen! Endlich, endlich wieder in deinen starken Armen liegen und dir nah sein, NAH SEIN! Wie sehr ich das brauche. Ein Leben lang!
Ich liebe dich unendlich,
Dein Henrik
12
Immer wieder kehrte Maria in Gedanken zu den Geschehnissen im Glashaus zurück. Der alte Mann, der starb, war ein böser Mensch, ein Mann, der viel Unheil angerichtet hatte in seinem Leben. Und doch: Konnte sie sich wirklich sicher sein, dass es den Richtigen getroffen hatte? An dem Abend, als er den Vortrag im Stockholmer Schmetterlingshaus gehalten und sie mit Love im Publikum gesessen hatte, war sie nicht vollkommen davon überzeugt gewesen. Etwas länger als
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