Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
registrierte den Schmerz in ihrer linken Brust, bevor sie überhaupt begriff, was geschah. Sie spürte, wie sie hart herumgerissen wurde und wie etwas auf, nein, in ihrem Gesicht zertrümmerte. Dann verlor sie das Bewusstsein.
Woran sie sich später erinnerte, waren die Schemen von Knutsson und dem Streifenpolizisten, die auf sie einredeten. Die leuchtenden Plastikclogs der Ärztin im Krankenhaus. An Anette Hultin, in deren Armen sie lag. Alles, alles tat ihr weh. Ihre Nase, die gebrochen und geschwollenwar. Ihre linke Brust, auf der sich mittlerweile ein faustgroßes Hämatom gebildet hatte. Ihr müder, bis an die Grenze belasteter Körper. Sie spürte die tiefe Demütigung durch den Übergriff, die Scham und Verzweiflung, dass sie sich nicht hatte wehren können. Bingströms widerliche Drohung aus dem Verhörraum. Die Unfähigkeit ihres Chefs Edman und die Einschüchterungsversuche des undurchsichtigen Dr. Iverus. Die ganze verdammte Ermittlung. Sie krallte sich in Hultins Sweatshirt und weinte, bis sie jedes Zeitgefühl verlor.
9
Nachdem Hultin und Knutsson sie nach Hause gefahren hatten, hatte sie geduscht, so lange, bis nur noch kaltes Wasser aus dem Duschkopf an der Wand gekommen war. Dann hatte sie ein Feuer im Kamin gemacht, sich in eine Wolldecke gewickelt und auf das Sofa vor den Kamin gesetzt und darauf gewartet, dass Anders nach Hause kam. Gefroren hatte sie trotz des Feuers und trotz der Decke. Ihre Brust schmerzte noch immer. Obwohl es nur eine Quetschung war, fühlte es sich an wie eine offene Wunde. Lange Zeit saß sie still da und sah zu, wie das Feuer herunterbrannte, bis es nur noch ein Häufchen qualmender, glühender Asche war. Ihr Körper schüttelte sich, als wäre er Frost ausgesetzt, dabei waren es in dem Wohnzimmer weit über zwanzig Grad. Mein Körper reagiert, dachte sie. Er reagiert auf den Angriff. Ein Körper hat ein Gedächtnis und ein Bewusstsein, und das wurde verletzt von diesem Schwein. Ich wünschte, jemand würde ihm wehtun, dachte sie. Ich wünschte, jemand würde ihm richtig wehtun.
Als Anders schließlich nach Hause kam, saß sie noch immer in ihre Decke gewickelt auf dem Sofa. Sie hatte ihn nicht anrufen wollen. Das, was ihr passiert war, war nichts, was sie am Telefon besprechen wollte. Anders Nyström kannte seine Frau gut genug, um sofort zu spüren, dass etwas passiert war.
»Komm bitte her«, sagte sie.
Anders las ihren Blick und verstand. Er tat etwas, was er seit dreißig Jahren nicht mehr gemacht hatte. Er ging zum Sofa und hob seine Frau vorsichtig hoch. Einen Arm legteer unter ihren Rücken, den anderen unter ihre Kniekehlen. Ingrid Nyström war eine große Frau, aber Anders war auch ein großer, kräftiger Mann. Er trug seine Frau aus dem Wohnzimmer hinaus und die Treppe hinauf in das Schlafzimmer. Sachte legte er sie auf den Holzfußboden mit der warmen Maserung, vor das Bett. Dann schob er ihren Körper behutsam unter das Bett. Er selber rutschte in die dunkle Höhle hinterher. Dort, verborgen hinter den langen Schößen der Tagesdecke, im Staub bei den Wollmäusen lagen sie lange wortlos beieinander, hörten auf ihre Atemzüge und wärmten einander in kindlicher Geborgenheit.
10
»Wo wohnt er?«, fragte Forss.
»Warum? Was hast du vor?«, wollte Delgado wissen. Ihm war nicht wohl bei der Sache. Die Deutsche sah anders aus als sonst. Entschlossener.
»Ergebnisse besorgen«, antwortete Forss.
Eine Frau mittleren Alters hatte die Tür geöffnet und sie verwundert gemustert. Dann ließ sie sie in das riesige Haus eintreten und deutete auf die Tür zur Rechten des Flurs.
»Mein Mann arbeitet. Bist du mit ihm verabredet?«
Aber da war Forss schon an ihr vorbei. Sie durchmaß mit wenigen Schritten die überdimensionierte Eingangshalle, riss die Tür des Raumes auf, trat in das Zimmer und warf die Tür wieder hinter sich zu. Bingström, der an einem Schreibtisch vor einem Laptop saß, drehte sich um und glotzte sie an. Forss war mit drei schnellen Schritten bei ihm, gleichzeitig zog sie die Waffe aus dem Holster unter ihrem Mantel. Mit einer weit ausholenden Armbewegung schlug sie die Längsseite der SIG Sauer an Bingströms Schläfe. Bingströms Augen, die eben noch in einem Moment der Erkenntnis aufgerissen waren, schlossen sich in dem Augenblick, in dem die Waffe gegen seinen Schädel knallte. Sein schwerer Körper wurde mitsamt dem Stuhl, auf dem er saß, nach hinten gerissen und kippte über. Mit einem Knall schlug sein Hinterkopf auf den Fußboden.
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