Später Frost: Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
eine Woche war das jetzt her. Seine Stimme hatte nichts in ihr ausgelöst, aber anderseits hatte er in einer fremden Sprache gesprochen, Schwedisch, und man klingt anders in einer fremden Sprache. Als sie ihm in die Augen gesehen hatte, war nichts geschehen, hatte es kein Erkennen gegeben, wenn Erkennen überhaupt möglich war, wenn es überhaupt so etwas wie negative Gravitation gab, ein dunkles Band zwischen ihnen. Sie war unsicher geworden. Sie hatte gespürt, dass sie näher an ihn heranmusste, ihm Auge in Auge gegenüberstehen, seinen Atem spüren, das Pochen seines Blutes in den Adern fühlen. Aber diese letzte Gegenüberstellung war ihr auf grausame Art und Weise verwehrt worden. Wie konnte sie sich sicher sein?
SONNTAG
1
Ingrid Nyström wachte früh auf. Natürlich war die Nase noch geschwollen und die Quetschung auch, und ihre Brust schmerzte, wenn sie sich bewegte. Sie betrachtete den hässlichen, violetten Fleck auf ihrer Haut lange im Spiegel der Kleiderschranktür. Als sie hörte, dass Anders sich im Bett bewegte, knöpfte sie schnell ihre Bluse zu. Dann klingelte das Telefon.
Eine Stunde später saßen Hugo Delgado und Anette Hultin in ihrem Wohnzimmer. Nyström legte den Brief zur Seite und lehnte sich im Sofa zurück. Dicht neben ihr saß Anders, er hatte einen Arm um die Schultern seiner Frau gelegt. Draußen, in der Dämmerung des Sonntagmorgens, ging ein böiger Wind.
»Ein Brief«, sagte Nyström. »Es war also ein Liebesbrief, mit dem Bingström die beiden Männer über Jahre erpresst hat. Wie bitter!«
»Er ist ein mieser Erpresser«, sagte Delgado. »Es ist genau so passiert, wie du es vermutet hast. Er hat Larsson und Lönn zusammen ertappt, Anfang der Achtzigerjahre, als er die Reparaturarbeiten in dem Haus im Wald durchgeführt hat. Dann hat er gezielt nach etwas Kompromittierendem gesucht und schließlich den Brief gefunden und gestohlen. Larsson und Lönn sind vor Angst fast verrückt geworden. Obwohl sich die Zeiten längst ge-ändert hatten, obwohl das Schweden der Achtzigerjahre ja nichts mehr mit dem hasserfüllten gesellschaftlichen Klima der frühen Fünfziger zu tun hatte. Obwohl beide inzwischen gestandene, erwachsene Männer waren und Lönns Vater seit Langem tot, hat sie die Vorstellung einer öffentlichen Demaskierung in Panik versetzt, und sie wollten ihr Versteck um jeden Preis bewahren. Auf Larsson wäre wegen seiner falschen Identität obendrein wohl einiges an behördlichem Ärger zugekommen, auch wenn er im Grunde niemandem wirklich geschadet hatte und wahrscheinlich mit einer überschaubaren Strafe davongekommen wäre. Trotzdem hat er an Bingström gezahlt. Er und Lönn konnten sich innerlich nie vom Spuk der Fünfzigerjahre befreien, das ist das wirklich Tragische an der Geschichte.«
»Sie müssen eine Fallhöhe gespürt haben, die es gar nicht mehr gegeben hat«, sagte Nyström.
»Vielleicht wollten sie der feinen Familie Hedingks auch den gesellschaftlichen Skandal ersparen«, fügte Hultin an, »immerhin galt Johan ja seit Jahrzehnten als vermisst. Wenn er dann so plötzlich aus dem Nichts als Schwuler auftaucht, hätte das wohl für einigen Wirbel gesorgt. Die alte Hedingks ist ja anscheinend so sehr um ihren Ruf bemüht, dass sie selbst heute noch versucht, Einfluss auf unsere Ermittlung zu nehmen.«
Nyström nickte zustimmend. Delgado fuhr fort.
»Bingström schwört jedenfalls Mark und Bein, dass er mit Larssons Tod nichts zu tun hat. Ich weiß nicht. Ich glaube ihm eigentlich gar nichts mehr, aber mein Gefühl sagt, dass er nicht der Mörder ist. Die ganzen Umstände passen nicht zu seinem dumpfen Charakter. Die Sache mit dem Finger und dem Würfel, das traue ich ihm nicht zu, wenn ich ehrlich bin.«
»Was sagt Örkenrud?«
»Muss sich jeden Augenblick melden.«
»Hat Bingström ein Alibi?«
»Ein wachsweiches, er hat mit seiner Frau den ganzen Abend ferngesehen. Melodifestivalen .«
Nyström strich sich über das Haar. Ihre Stimme war tonlos.
»Ich weiß nicht so recht. Sein Motiv ist stark.«
»Im Gefängnis landet Bingström auf jeden Fall. Er hat bereits das Geständnis unterschrieben«, sagte Delgado. »Und das ist gut so. Immerhin ein Schwein weniger, das frei herumläuft, auch wenn das Gesellschaftsleben von Växjö darunter leiden wird. So schnell wird es hier wohl kein japanisches Feuerwerk mehr geben.«
Nyström wollte sich ein Lächeln abringen, aber es misslang. Das, was Bingström ihr angetan hatte – und dass es Bingström
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