Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
Freundinnen in die Clubs gingen, ließen sie die Schnürsenkel ihrer Turnschuhe auf, damit irgendein Junge sagte: Eh, dein Turnschuh ist auf! Das konnte ein Anfang sein.
Manchmal hatte Sylvie vor ihrer Limonade gesessen und gezittert, ob der, auf den sie wartete, an ihren Tisch kam. Sie hoffte, dass unter den drei Titeln der Runde ein langsamer sein würde, einer, nach dem man »auf Liebe« tanzen konnte. Sie wartete auf einen,den sie Killer nannten, er war der Anführer einer Bande, wenn ihm was runterfiel, hoben andere es für ihn auf. Wie Killer mussten Männer aussehen, nicht wie Wolfgang Puff aus ihrer Klasse. Killer nahm Sylvie nicht ernst, er war schon zwanzig. Wenn er aber sah, dass ein anderer sich ihr näherte, schritt er ein, wie ein Bruder seine Schwester beschützt, wie in italienischen Filmen eben. Sein Terrain waren Volksfeste und Rummelplätze, da kannte er die Schausteller und bekam Gratiskarten für die Karussells. Wie er in der Luftschaukel stand, allein, in schwarzem Anzug und weißem Hemd, das schwarze Haar glänzend von Pomade! Mit wenigen Schwüngen schaffte er Überschlag auf Überschlag. Zwischendurch, von ganz oben, warf er sein Jackett nach unten, einer aus der Clique fing es auf, ein Kofferradio spielte »Just walking in the rain«.
Es gab Männer, die sagten beim Tanzen: Sie sehen so anständig aus, Fräulein, Sie passen gar nicht hierher. Was heißen sollte: Wir beide, Sie und ich, passen nicht hierher, worauf eine Einladung in die Bar mit dem rotem Licht folgte, die sich am hinteren Teil des Saals befand, eine Einladung zu einem Ginfizz oder einer Prairieoyster. Wer in der Bar saß, war was Besseres. Manchmal kreuzten da Jungs auf mit Brecht-Haarschnitt, auch Römer genannt, Studenten der Kunsthochschule. Die erzählten von Dixielandjazz in der Eierschale in Charlottenburg. Ihre Bekanntschaft veränderte Sylvies Leben. Bald ließ sie sich ihre langen, dünnen, immerblonden Haare kurz schneiden wie Jean Seberg in »Außer Atem«. Die Art, wie Jean-Paul Belmondo mit dem Daumennagel den Schwung seiner Lippen nachzog, beeinflusste nachhaltig Sylvies Verhältnis zur Erotik.
Die Halbstarken der Fünfziger und Sechziger des vorigen Jahrhunderts, von ihren Alten beschimpft für Elvistolle, Jeans und Rock ’n’ Roll, tanzen jetzt auf den Bunten Abenden der Altersheime zwischen Rollstuhl und Rollator nach Rock around the clock, das muss man sich mal vorstellen! Doch nicht genug, die jungen Wilden von gestern nörgeln an der Jugend von heute wegen ihrer Computerspiele, ihrer Rapperhosen und ihrer Heavymetalmusik. Früher war alles besser – Selbstherrlichkeit als Überlebensstrategie, nur so können sich die Alten über Wasser halten in der Flut des Neuen, das über sie hereinbricht und das sie nur zögernd und verzögert, misstrauisch und hochmütig akzeptieren. Zu ihrer Zeit war alles besser.
Zeit, was ist das? Was für Uhrmacher, was zum Totschlagen, was zum Wundenheilen oder Eier kochen? Ein Tempus in der Grammatik, ein Ereignismesser? Die Möglichkeit, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu unterscheiden, ein Ordnungsprinzip also? Möglicherweise gebe es die Zeit gar nicht, meint der Wissenschaftler David Eagleman. Als er im Alter von acht Jahren von einem Rohbau stürzte, seien ihm die 0,8 Sekunden des Falls, so rechnete er später nach, wie eine Ewigkeit vorgekommen. Es sei ein Moment absoluter Ruhe und einer geradezu unheimlichen Geistesschärfe gewesen. So müsse Alice im Wunderland sich gefühlt haben, als sie in den Bau des weißen Kaninchens fiel. Der Forscher meint, dass unser Gehirn die Zeit nicht passiv registriert, »sondern je nach Besonderheit der Umstände aktiv konstruiert«. Die Zeit wäre demnach von uns abhängig und nicht wir von ihr. »Die Zeit steht still. Wir sind es, die vergehen«, schrieb Mascha Kaléko. Die Zeit ist ein Zeitzünder.
Der Homo senex – früher war mehr Lametta
Die ersten vierzig Jahre unseres Lebens liefern den Text, die folgenden dreißig den Kommentar dazu.
Arthur Schopenhauer
Das Zirpen der Grillen, das Tropfen des Wasserhahns, die geflüsterten Dialoge in modernen Fernsehfilmen, vorbei. Der Homo senex ist schwerhörig, will aber auf keinen Fall ein Hörgerät. Zu viele Nebengeräusche, ist sein Argument, denn er hat sich an eine Welt ohne Nebengeräusche gewöhnt, den Verlust der Zwischentöne nimmt er hin und riskiert so Missverständnisse mit unabsehbaren Folgen. Zwei alte Männer im Stehcafé. Na, altes Haus, sagt der eine Alte zum
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