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Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Titel: Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Voigt
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Chipsassiettenmit scharfer Sauce, Bierflaschen auch nicht. Kein Knistern, Knuspern, Knacken. Höchstens mal ein Eiskonfekt von Schöller, das gab es früher auch. Die Nachmittagsvorstellung gibt dem Tag des Homo senex Struktur und lässt noch genügend Zeit für das Fernsehprogramm zum Einschlafen.
    In Wien ist das Bellaria. Die Tapete dieses hundert Jahre alten Kinos stammt aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, Foyerbar und Kinosessel aus den Fünfzigern, das Kassenhäuschen hat Glasscheibe und Sprechloch. Jeden Nachmittag wird ein Ufa-Film gezeigt, in Schwarzweiß, mit Stars, die lange tot sind, Hans Moser, Marika Rökk, Zarah Leander, Willi Forst. Hier verkehren Stammgäste, ältere Damen und Herren, für die jeden Nachmittag eine untergegangene Welt aufersteht, die Welt ihrer Jugend, die Welt, die ihre war, die Früherwelt. Sie ist gereinigt von allen Katastrophen eines kriegerischen Jahrhunderts, da ist nur noch Idylle, der Vorhimmel für ein Publikum, das viel hinter und wenig vor sich hat. Das Früher als Reich des Glücks und der Verlässlichkeit – Bellariaträume.
    Früher hatten die Dinge Bestand, heute ist alles vorübergehend. Schneller Wechsel von Hoffnung und Enttäuschung. Man kann nicht mehr erwarten, dass es das Restaurant noch gibt, in dem man vorigen Sommer so gut gegessen hat. Dass das Geschäft mit den bunten Pullovern noch da ist, wo es war. Dass der Feinkostladen morgen noch am selben Platz ist wie heute, scheint ebenfalls ungewiss. Beschleunigte Vergänglichkeit, alles vorübergehend, vorübergehend wie das Leben. Das Leben im Vorübergehen. Der Homo senex möchte, dass die Zeit stehen bleibt, denn ihr Vergehen vergrößert seine Defizite und verschlimmert seine Schwäche.
    Der Homo senex blüht auf, wenn er von früher erzählen kann, Geschichten aus seinem Leben, als er jung war oder wenigstens jünger als heute, als er zehn, zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig, seinetwegen auch sechzig Jahre alt war. Geschichten von den Taten seiner aktiven Zeit in Liebe und Beruf. Früher ist das Passwort, das die Stimmung hebt. Erinnerung beschwingt den Homo senex, seine Wangen röten sich, weil jene Welt vor ihm aufersteht, in der er als handelndes Subjekt den Lauf der Dinge mitbestimmte. In Gegenwart der Erinnerung wird der Homo senex wieder jung.
    Ein einzelner Alter ist schwach, ein Heer von Alten kann stark sein, Gruppenbildung gehört zum Überlebenstraining. Der Homo senex, solange er rüstig ist, reist in Gruppen mit klaren Ansagen durch die Welt, die Fähnchen und Regenschirme der Reiseführer weisen ihm den Weg. Alles wird für ihn organisiert, bestellt, besorgt, gerichtet. Er steht da, die Krücke in der Hand, den Rucksack auf dem krummen Rücken, ein Basecap auf dem kahlen Kopf und wartet, was ihm geboten wird. Seniorenbanden in ihrer fordernden Verantwortungslosigkeit gleichen Kindergartengruppen mit dem natürlichen Recht auf Fürsorge. Zwei ältere Damen aus dem Fränkischen sitzen beim Lunch in einem Bistro. Sie haben Freizeit, ihre Reisegruppe trifft sich erst in einer Stunde wieder. In England, erzählt die eine, waren wir in einem Restaurant, da gab es große Tische am Fenster, aber sie haben uns hinten im Dunklen vor den Toiletten platziert. Das kenne ich, sagt die andere, in Frankreich war es genauso. Da, schauen Sie mal, Frau Weinbichler, die stehen schon alle da, dabei ist noch eine halbe Stunde Zeit, die wissen allein nichts mit sich anzufangen. Wir bleiben noch auf einen Kaffee, gell.
    Der Homo senex reserviert für seinesgleichen ganze Waggons der Deutschen Bahn und lärmt bei der Platzsuche lauter als Schulklassen und Pfadfindervereine. Er schubst und drängelt beim Einsteigen, weil er befürchtet, nicht mitzukommen, seine Schwäche macht ihn rücksichtslos. Wehe, jemand hat den Platz besetzt, für den er eine Platzkarte hat. Das Platzsuchen, Platzeinnehmen und Vertreiben nicht reserviert habender Mitfahrer dauert eine halbe Stunde, ein dreißigminütiges Chaos. Sitzt man endlich, und die Koffer und Taschen sind verstaut, werden Keksschachteln durchgereicht. Die alten Damen juchzen laut durchs Abteil, ein Zwitschern ist das und ein Kichern, Klassenfahrtstimmung. Sie reden noch eine Stunde lang über ihre Platzreservierung, später über den Lindenblütenhonig, den sie sich auf ihrer Wanderreise durch Thüringen gekauft haben, direkt beim Imker. Es folgt der Austausch über die Talkshow »Frauen über fünfzig«: Da hat doch ein Mann für seine einundzwanzig

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