Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
sie plante: Ich setze Papa drauf und führe ihn durch den Wald, er kann zwar nicht mehr reiten, aber er spürt das Pferd.
Der Homo senex ist mobil bis ins hohe Alter. Ihm stehen Elektromobile, Fahrräder mit Unisex-Einstieg, Treppenlifte und Badewannen mit Tür zur Verfügung.
Dusche ist besser als Wanne in unserem Alter, sagt Karlheinz zu Werner im Regionalzug von Berlin nach Waren, eigentlich dürfte ich gar nicht wegfahren, jetzt, wo die Dusche gemacht wird.
Wird schon werden, musst dir nicht vorher schon so viele Gedanken machen, alles auf dich zukommen lassen!, beruhigt ihn Werner.
Draußen zieht schneebedeckte, flache Landschaft vorbei, ein tiefer grauer Himmel hängt darüber wie ein schmutziger Baldachin. Die Männer sitzen sich gegenüber und sehen aus dem Fenster, Karlheinz und Werner, wie sie einander unaufhörlich nennen. Die ständige Wiederholung ihrer Namen soll den Respekt ausdrücken, den sie füreinander empfinden. Karlheinz, der schmale Graugescheitelte, trägt ein blaues Hemd und darüber einen fein gestrickten Pullover mit spitzem Ausschnitt. Werner, der kahlköpfige Robuste, bevorzugt ein kariertes Flanellhemd und Bluejeans. Einmal im Jahr treffen sie sich mit anderen alten Sportsfreunden an der Mecklenburgischen Seenplatte.
Karlheinz macht sich weitere Gedanken über die Notwendigkeit der Dusche im Alter: Aber Griffe brauch ick inner Dusche, Werner.
Ja, lass dir genug Griffe anmachen, Karlheinz, lieber einen mehr als einen zu wenig, und achte darauf: Die Dusche muss mindestens achtzig mal neunzig sein.
Zur Notwendigkeit der Dusche im Alter scheint irgendwann alles gesagt. Schweigende Suche nach Gespächsstoff, man möchte sich doch unterhalten, wenn man schon mal zusammen verreist.
Guck dir den Winter da draußen an, Werner, die Kälte, der Schnee, und da reden die von Klimaerwärmung.
Kannste alles nicht mit früher vergleichen, Karlheinz. Die Tiere ham jetzt nüscht zu lachen. Man soll sie nicht füttern, stand in der Zeitung. Jetzt kommen die Saatkrähen, die sollen ja klug sein und weise.
Wie wir, Werner.
Die Nebelkrähen sind auch schön, Karlheinz.
Die überfallen neuerdings Menschen, stand in der Zeitung, sie ziepen an den Haaren.
Werner lacht – da bin ich gut dran, ich hab keine mehr. Aber mein Arzt sagte neulich zu mir: Für Ihr Alter machense noch ganz schön was her. Weil ich doch am Marathonlauf übern Kudamm teilnehme, weißte, Karlheinz.
Wir machen uns öfter mal ’n Piccolo auf, ich und Marianne, und ihr?
Früher haben wir gerne mal ’ne Flasche Champagner getrunken, Christa und ich, Rotkäppchen trocken ist auch gut.
Waren/Müritz – wir sind da, Karlheinz! Pass auf, dass du nicht ausrutschst beim Aussteigen, hier schippt doch heutzutage keiner mehr den Schnee weg, das hätte es früher nicht gegeben.
Das Wort »früher« nimmt im Leben des Homo senex eine exponierte Stellung ein. Früher – das ist seine Welt, das ist die Welt, die er erschaffen hat. Früher – das ist sein Werk, seine Schöpfung, die lässt er sich nicht nehmen. Der Homo senex nörgelt am Heute und vergöttert das Gestern. Früher hat kein erwachsener Mensch auf der Straße geweint, heute passiert es, dass eine Frau im Straßencafé laut schluchzt, weil sie über Handy die Nachricht bekommt, dass ihr Freund sich von ihr trennt. Früher hätte sie so was zu Hause erfahren, am Telefonapparat, allein. Nichts ist mehr diskret. Früher guckte man im Duden nach oder im Brockhaus, wenn man was wissen wollte, da steckten Fachleute hinter, heute klickt man Wikipedia an, da darf sich jeder verewigen, der was zu wissen glaubt. Früher hat man sich Auge in Auge unterhalten, heute simsen sie oder telefonieren freihändig. Menschen, die laut mit sich selber reden, hat man früher für krank gehalten, heute bestimmen Monologe die Kommunikation. Früher hat man seinen Kaffee nicht aus Pappbechern getrunken, sondern aus Porzellantassen. Früher hatte man eine Handschrift und schrieb Briefe, heute versendet man E-Mails, in Hamburger Schulen wird gerade die Schreibschrift abgeschafft. Früher haben sich Männer und Frauen beim Tanzen oder im Biergarten oder im Freibad kennengelernt, heute suchen sich Traumfrau und Traummann im Internet. Früher war mehr Lametta, kräht Loriots Opa Hoppenstedt alle Weihnachten zum Entzücken von Jung und Alt durch die Fernsehsender.
Der Homo senex bevorzugt die Nachmittagsvorstellung. Kino während der Nachmittagsvorstellung ist Kino wie früher. Keine Popcorneimer, keine
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