Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
Ich trage übrigens kaum noch Kleider, meine Beine sind nicht alt genug. Hinten Lyzeum, vorne Museum – der Spruch geisterte als Schreckgespenst durch ganze Generationen älterer Frauen.
Ich habe eine Vorliebe für die Rückspiegel des Lebens. Sylvie, das Sonnabendmädchen, hatte versucht, bescheidene Fülle in ihr dünnes Haar zu bringen. Es lockte sich, wenn sie nicht aufpasste, mit Locken ging man nicht in den Saalbau, mit Locken sah man nicht aus wie die blonde Hexe. Manchmal, an Sommersonntagnachmittagen, kamen ihre Eltern untergehakt in den Biergarten vom Saalbau, die Mutter mit tizianrot gefärbter Dauerwelle und berechtigten Zweifeln an der Liebe ihres Mannes, der Vater mit korrektem dunkelblondem Scheitel und einem verwegenen Lächeln. Sie tanzten nach »Ramona, zum Abschied sag ich dir Good bye«. Sie waren damals beide vierunddreißig Jahre alt, Jahrgang Einundzwanzig, man nannte sie die verlorene Generation, weil der Krieg ihnen die Jugend geraubt hatte.
Sylvie musste aufpassen, dass sie nicht mitkriegten, wie sie Pfefferminzlikör trank, sie war froh, wenn die Vorstellung begann und die Eltern endlich im Kino verschwanden. Es war ihr Saalbau, auch wenn er eine Tradition hatte, von der sie nur aus Erzählungen wusste. Walter Ulbricht und Joseph Goebbels sollen sich da Wortgefechte geliefert haben, ihre Mannschaften sollen in Saalschlachten gegeneinander angetreten sein. »Wacht auf, Verdammte dieser Erde« gegen »Die Fahnehoch, die Reihen fest geschlossen«. Der Saalbau war im Krieg zerbombt und danach als Provisorium wieder aufgebaut worden. Wie Sylvie rausfand, waren Provisorien das wahre Leben, sie liebte Rummelplätze und Laubenkolonien. Selbst Laufmaschen und zerlaufene Schminke sah sie gelassen, auch Schönheit war eine Improvisation, vielleicht die utopischste. Provisorien sind Hoffnung, sie nähren die Illusion, dass alles nur besser werden kann. Provisorien verlängern die Vorfreude. Sylvie erwartete vom Leben hauptsächlich Vorfreude; davon gibt es im Alter naturgemäß weniger. Vorfreude ist der Schmelz der Jugend. Weich wie Samt liegt sie auf den Wangen, träumerisch spiegelt sie sich in den Augen, übermütig im Lachen.
Ich sehe mir gern junge Frauen an. In jeder entdecke ich ein Stück von mir. Ihre Art zu sprechen, sich zu bewegen, zu denken, fröhlich zu sein oder traurig, rosig auszusehen, weil das Leben so schön ist, oder blass, weil Liebeskummer das Herz zerreißt oder das Kind Pseudokrupp hat. All das erinnert mich an mich. Die Zärtlichkeit, die ich für junge Frauen empfinde, empfinde ich auf diese Weise auch für mich. Vor ein paar Sommern ging ich morgens eine leere Straße entlang. Mir kam eine Frau in einem wehenden, durchsichtigen, bunten Kleid entgegen. Sie hatte langes, braunes Haar und trug flache goldene Sandalen, in ihrer Erscheinung war der ganze Rausch der Jugend. Als sie an mir vorüberging, war mir, als würde ein Hauch davon auf mich übergehen. Ich blieb stehen, drehte mich um und sah ihr nach. In dem Moment fuhr ein Lastwagen vorbei. Der Beifahrer lehnte sich aus der Kabine und rief mir im Vorüberfahren zu: Du bist ooch hübsch!, im Rückspiegel sah ich sein Lächeln.
Im Saalbau hatte Sylvie die Erfahrung gemacht, dass sie wählen konnte. Erst staunte sie darüber, dann gewöhnte sie sich daran. Wenn die Kapelle zu spielen begann, kamen die Jungs über die Tanzfläche und verbeugten sich: Darf ich bitten? Sie konnte sich aussuchen, mit welchem von dreien oder vieren sie tanzen wollte. War keiner dabei, der ihr gefiel, sagte sie: Danke. Oder: Der Tanz ist vorbestellt. Oder: Ich wollte gerade mit meiner Freundin tanzen. Dankbar registrierte sie die Zahl der Bewerber. Mit den meisten tanzte sie, die Unterhaltung hatte ein einfaches Muster: Sind Sie zum ersten Mal hier? Blaue Augen, Himmelssterne, lieben und poussieren gerne, oho. Die Gesellschaftstänze hatte Sylvie in einem Kurs gelernt, den die Russischlehrerin an der Schule durchführte, im Chemieraum oder in der Turnhalle, auf der einen Seite die Mädchen, auf der anderen die Jungs. Tango, Mambo, English Waltz. Rock ’n’ Roll lernte man nur im Saalbau.
Die Jungs wussten, was sie zu tun hatten, die Mädchen auch, dafür gab es die Rituale. Manchmal tun mir die jungen Frauen von heute leid. Die Männer trauen sich nicht mehr, den Anfang zu machen, und wenn die Frauen die Eroberer spielen, fühlen sich Männer nicht mehr als Männer. Also tanzen sie allein durchs Leben. Wenn meine Töchter und ihre
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