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Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Titel: Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Voigt
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Mädchen gespielt, jetzt bin ich es und wunderemich, weil ich doch alt bin. Da haben wir sie – die komische Alte!
    Die Jugendbilder an den Wänden zeigen eine extravagante Frau. Kinnlanger Pagenschnitt, ein Profil wie von Chagall. Dreiundzwanzig war sie da, unsterblich verliebt in ihren Lehrer, der wollte partout nicht. Ich habe Zahnlücken, brüllte er ins Telefon, ich bin alt. Lass mich deine Lücken lecken, hauchte sie. Unglück in der Liebe hatte für sie Glück in der Arbeit bedeutet, sie machte an der Kunsthochschule gerade ihr Diplom.
    Du bist nun alt. Ja. Mit einem merkwürdigen Genuss. Ich fühle mich im Kopf jünger als damals, wo ich mich für klug hielt. Gigis Urteile haben sich verlagert. Leute, auf die sie früher reingefallen ist, interessieren sie heute nicht mehr, keine Salons, keine roten Teppiche. Ihr reicht die Kneipe an der Ecke, die skurrile Solidarität der sogenannten kleinen Leute: Ja, ich bin alt, ich wüsste in diesem Land auch nichts mit dem Jungsein anzufangen. Ich bin nicht da reingewachsen, ich bin da reingeschubst worden. Ich habe keine kapitalistischen Triebe entwickelt, vielleicht würde ich mich auch aufspritzen und mir das Bauchfett abschneiden lassen. Ich habe mich an mein Gesicht gewöhnt, auch an meinen älter gewordenen Körper. Ich finde mich schön, aber ich würde mich nicht mehr vor jemandem ausziehen. Sie hat es an die Küchenwand geschrieben: 1997 war zum letzten Mal ein Mann hier.
    Sie zieht sich nach wie vor auffällig an, möchte Abstand demonstrieren. Manchmal klappt das nicht mit dem Abstand. Auf der Straße lief ihr neulich ein Araber hinterher und wollte sich unbedingt mir ihr verabreden: So eine Speckmaschine im schwarzen Anzug. Ich bin regelrecht vor ihm weggerannt, das Wort Sexraste durch meinen Kopf wie ein feindliches Geschoss. Das sei es nicht, wonach sie sich sehne. Sie sehne sich nach Witz, nach Scharfsinnigkeit, nach Menschen, die sie verstehen. Ihre kapriziöse Aufmachung ist ihr Konzept, sie möchte nicht verschwinden, nicht übersehen werden, nicht untergehen: Ich will da sein.
    Gigi, die Malerin der Zauberwelten, hat gerade fünfundzwanzig Skulpturen zum Thema Tod gemacht, ihre Totengötter, »Der fröhliche Tod«, heißt das Werk. Den Schwarzen Tod in Deutschland fand sie schon immer trostlos, sie zieht den bunten aus Mexiko vor. Früher ist sie mit ihrem Sohn an das Grab ihrer Mutter frühstücken gegangen, Schwarzbrot, weil die Großmutter dem kleinen Max immer gesagt hatte, er solle Schwarzbrot essen. Gigi würde am liebsten die gesamte Grabsteinkultur revolutionieren, die ähnlich stupide sei wie die Wohnzimmereinrichtungen der meisten Leute. Es müsste, sagt sie, Knöpfe geben hinter den Grabsteinen, die könnte man drücken, und es würde das Lachen der Toten erklingen, am Totensonntag würde der halbe Friedhof lachen.
    Seit über zwanzig Jahren schneidet Gigi Todesanzeigen aus der Zeitung aus: Seit die ersten Männer, mit denen ich körperlich zu tun hatte, vom Tod entkörpert wurden, fühle ich einen gewissen Triumph. Die toten Männer können mir nicht mehr wegrennen, ich weiß, wo sie wohnen, ich habe die Erinnerungshoheit, ich kann meine Beziehung zu ihnen so schildern, wie ich es für richtig halte, ich habe die absolute Macht über das, was gewesen ist. Verinnerung ist die höchst Form der Erinnerung.
    Schön sei, dass die Jagd ein Ende hat, die Jagd auf Männer, die Jagd nach Liebe. Früher brauchte sie dasunglücklich Verliebtsein, um einen Auftrag zu erfüllen, es war eine Art Leistungssport, sie musste was beweisen. Sie fragt sich, wie sie die fünfundzwanzig Totengötter fertiggekriegt hat, ohne verliebt zu sein. Dass sie nicht mehr verliebt sein muss, empfindet sie als entlastend. Sie liest mir aus einem ihrer schwarzen Tagebücher vor, in die sie mit unglaublich filigraner Schrift geschrieben und gezeichnet hat, wie sie an der Liebe litt: »Für jeden großen Schmerz braucht man eine Unterbrechung, damit man ihn wieder spürt – den Schmerz.« O Gott, seufzt Gigi, o Gott, was habe ich früher alles mit den Weibern angestellt, auf die ich eifersüchtig war, da will ich gar nicht dran denken, hier guck mal: »Wie mache ich keinen Skandal? Gründung einer Armee von Abwehrkörpern im sündigen Blut.« Die Liebe, sagt sie, war der größte Störfaktor in meinem Leben.
    Alter schützt vor Jugend nicht? Kann man auch umdrehen, es gibt viele Junge, die alt sind. Das Schlimmste, meint Gigi, sind die Gleichaltrigen: Die waren so frei,

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