Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
abends mit Lulu und Lotti, ihren zwei chilenischen Katzen, auf dem Sofa zu sitzen, in das Rot der Abendsonne zu sehen und was Süßes zu essen. Weil sie sich nicht mehr so für Kleider interessiert wie früher, hat sie auch keine Sorgen mehr wegen ihrer Figur; neuerdings isst sie im Kino sogar Eiskonfekt.
Eine Art Gleichmütigkeit hätte sie überkommen, der Nachteil sei der Verlust von Witz und Schlagfertigkeit, so was werde ihr nicht mehr abverlangt. Die Fröhlichkeit ginge weg, die Neugier, unter Alten würden vor allem Geschichten über Krankheit und Tod erzählt. Lisa ist nicht mehr leichtsinnig und nicht mehr leichtfüßig, Gelenkprobleme. Als hätte man einem Vogel die Flügel amputiert. Nachts in der S-Bahn zwischen den jungen Leuten kommt sie sich manchmal unpassend vor. Lisa schmückt sich gern mit bunten Federn, seidenen Blumen, glitzernden Kämmen. Die Alte ist verrückt geworden, mögen manche denken, sagt sie und lacht, bis ihr die Tränen in die Augen schießen. Das Alleinleben macht sie nicht mehr traurig, obgleich es anders schöner wäre. Ein fremder alter Mann in ihrer großen, geschmackvollen Wohnung? Unmöglich. Da vermietet sie lieber Zimmer an Studenten aus Kanada und China. Mit denen frühstückt sie ab und an und partizipiert für eine halbe Stunde an der Leichtigkeit des Seins.
Jeden Sonntagnachmittag bricht Lisa in ein Pflegeheim auf. Sie kümmert sich um einsame Alte. Ihre Mutter lebte fünf Jahre lang in diesem Heim, Lisa kennt dort alle, das Personal, die Bewohner, die Besucher; sie ist einfach weiter hingegangen, nachdem dieMutter gestorben war. Kein Anblick mehr kann sie erschüttern, nackte Alte mit Windeln, die auf den Korridoren umherirren, Sterbende, Verzweifelte, Demente. Viele bekommen keinen Besuch, sie sitzen da und warten, dass einer kommt, jeden Sonntag. Jeden Sonntag vergeblich: Und jetzt komme ich. Jeden Sonntag. Als Besuch. Wenn ich mal nicht kann, rufe ich an und sage Bescheid, dass ich nicht komme.
Da sitzen die Alten, eine graue Garde des Verfalls, einige sind schon vierzehn Jahre hier. Frau Schiefelstein kann nicht mehr hören, Frau Tierlein kann nicht mehr sehen, Frau Schill kann nicht mehr sprechen. Herr Hoppe möchte gerne Schach spielen und findet keinen Partner. Sie sitzen da in ihren Rollstühlen, neben ihren Rollatoren, schlaff, matt, mit vom Liegen eingedrückten Haaren, manche popeln und besehen sich das Ergebnis, wie Kinder. Frau Wiegmann und Frau Wegerich haben lackierte Fingernägel, pink und gold, denn einmal im Monat kommt eine Kosmetikerin, die Maniküre und Pediküre anbietet. Die Kosmetikerin ist den Alten lieber als der Akkordeonspieler. »Es war in Schöneberg im Monat Mai« macht sie traurig.
Frau Schill hat zehn Konfektionsgrößen abgenommen, die Kleider hängen an ihr wie Lumpen; Lisa hat ihr neulich eine Hose enger gemacht. Frau Tierlein tut ihr Sohn leid, weil er, wenn er sie alle acht Wochen besucht, so viel Fahrgeld bezahlen muss, wo er doch von Hartz IV lebt. Frau Jastrow, die früher sehr lebenslustig gewesen sein soll, fragt Lisa jeden Sonntag: Sag mal, Schätzchen, welcher Tag ist heute? Lisa bringt Nachrichten von draußen mit, manchmal eine Flasche Sekt. Sie erzählt, mit welcher ihrer Freundinnen sie sich getroffen hat, dass sie Ärger mit der Hausverwaltunghatte, wie das Geburtstagsessen mit ihren Söhnen war, und was sie gegessen haben. Grüße vom Leben. Lisa konnte die Tristesse von Sonntagen noch nie ausstehen. Da macht sie lieber was Sinnvolles und besucht die Alten. Mit denen kann sie manchmal sogar lachen am Sonntag.
Meine Alten
Nur mit großer Anstrengung kann ich mich davon überzeugen, dass ich selbst so alt bin wie jene, die mir in meiner Jugend so alt erschienen.
André Gide
Die Alten meiner Jugend hatten für mich keine Vergangenheit und keine Zukunft. Sie waren niemals etwas anderes als alt. Sie waren, wie sie waren, ich habe mir sie nie jung vorgestellt. Nicht meine Großmutter, nicht meinen Großvater, nicht Tante Ella, Onkel Rudi, Tante Trudi, Oma Lieschen und Frau Radetzky. Nicht die alte Nachbarin, die zwei betrunkene Bestatter im offenen Sarg aus ihrer Wohnung trugen, oder die bleiche Zeitungsfrau mit der Bubikopffrisur, die neben den Stapeln der Täglichen Rundschau auf dem Straßenpflaster hockte. Schon gar nicht meinen Urgroßvater, der befahl, dass Kinder nicht auf Stühlen, sondern auf Holzkisten zu sitzen hatten. Das Alter war eine Alltäglichkeit. In die Gesichter meiner Großeltern, Großonkel und
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