Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
tot sind? Er schlich sich wieder rein in die Musik, übt jeden Tag zwei Stunden, das sei anstrengend, aber wunderbar. Paul McCartney wurde gefragt, ob er mit Siebenundsechzig seinen Stimmbändern noch zumuten könne, die aggressiven Urschreie in »Helter Skelter« auszustoßen. Genau solche Fragen – wie lange halte ich das noch durch – stelle er sich nicht, nur deshalb könne er »Helter Skelter« noch singen, hatte der alte Beatle geantwortet.
Wenn Michael auf der Bühne steht neben den Gefährten der jungen Tage, schmalhüftig, ganz ohne Bauchansatz, jagt ihm »When it’s sleepy time down«, der Satz mit den drei Blasinstrumenten, begleitet vom Piano, einen Schauer von Jugend über den Rücken. Für zwei, drei Minuten wird der alte Professor zu dem halbwüchsigen Trompeter am Fenster, der sich in den Jazz verliebt hatte. Von der Bühne aus aber sieht er immer öfter in ein graues Meer mit grauer Gischt, das Schneepublikum, seine Generation, in Treue ergraute Fans aus Zeiten, als Jazz Freiheit bedeutete und Aufbruch. Die Jungen fühlen sich dem Jazz heute nicht so nahe, die Alten aber pfeifen, trampeln und applaudieren dem Echo ihrer Jugend. Manchmal steht ein Rollstuhlmit einem Todkranken in der ersten Reihe, direkt vor der Bühne, dann fällt es dem Trompeter schwer, sich auf sein Spiel zu konzentrieren.
Vor dem Tod hat Michael keine Angst. Angst hat er vor Alzheimer, nicht um sich, aber um seine junge Frau, die ihn dann pflegen müsste. Gut, dass ich relativ begütert bin, Sandra könnte eine Pflegekraft engagieren und sich ab und an zwei Wochen von ihm erholen, auf Hiddensee vielleicht. Ich vergesse Namen, bemerkt Michael mit sorgenvollem Gesicht, auf Empfängen vermeide er, Leute einander vorzustellen. Der Einwand, dass fast jeder, der über sechzig ist, Namen vergisst, beruhigt ihn nicht wirklich.
Ganz klar, ich bin ein Gewinner des Lebens, denn ich kann glücklich sein, ich bin nicht allein, sagt Michael. Was ist er froh, dass es ihm nicht geht wie einem berühmten Freund. Der konnte sich vor Frauen nicht retten in seinen Mannesjahren und die sich nicht vor ihm. Im Alter war er allein und suchte Asyl. Keine seiner Ehemaligen wollte ihn bei sich aufnehmen; Babsi wollte ihn nicht, Karin wollte ihn nicht, Reni und Traudel auch nicht, sie kannten ihn zu gut. In diesem Moment kommt Michaels schöne junge Frau nach Hause, mit einer Melone. Der Professor räumt rasch die Jugendbilder vom Tisch.
Schätzchen, welcher Tag ist heute?
Du bist nun alt. Lisa kichert: Ja, die Wogen haben sich gelegt. Haben sich gelegt, die Wogen – sie lacht, und immer, wenn sie lacht, schießen ihr die Tränen in die Augen. Sie verpulvere ihre Kräfte nicht mehr für aussichtsloseSachen, sagt sie, die Meinungen anderer, besonders die politischen, interessieren sie nicht mehr. Sie will niemanden von irgendwas überzeugen, sie verteidigt keine Ansicht mehr: Ich kann lächeln, wo ich früher hätte heulen können. Sie fühle sich frei. Selbst von der Zuwendung ihrer Söhne sei sie nicht mehr abhängig, obwohl sie ihre Söhne liebt: Ich bin abgenabelt.
Neulich war sie bei der Beerdigung eines Kollegen, nur achtundvierzig Jahre alt wurde er. Die ganze Firma war da; manche begrüßten sie, andere übersahen sie, manche erkannten sie nicht, seit acht Jahren ist sie im Ruhestand. Sie stellte sich in die lange Kondolenzschlange. Niemand nahm Kontakt zu ihr auf, sie fühlte sich fremd, obwohl sie dreißig Jahre dort gearbeitet hatte. Kollegen sind nur so lange Kollegen, wie sie welche sind. Wenn der Zusammenhang weg ist, ist die Vertrautheit passé. Sie erinnert sich an ihre aktive Zeit, als die damaligen Rentner der Firma zu Betriebsjubiläen eingeladen wurden, aus Anstand und Gnade. Und sie erinnert sich daran, wie sie mit den Alten ein paar mitleidige, nichts sagende Worte gewechselt hatte, ohne ein Thema zu haben, sie hatte sie wie Wesen aus einer anderen Welt wahrgenommen, abgemeldet, vergangen, vergessen.
Sie säße jetzt aber nicht da und trauere der Vergangenheit nach, ach, wie hübsch war ich mal, wie schlank, wie begehrenswert, wie beliebt im Betrieb! Ihr ginge es heute, sagt sie, in gewisser Weise besser als in ihrer Jugend. Ihr Leben lang hatte sie Anpassungsschwierigkeiten, sie war ungestüm, rebellisch, grüblerisch, hatte wenig Begabung zum Kompromiss: Ich wollte alles anders, als es war. Sie hat immer zuviel vomLeben erwartet, nun erwartet sie nichts mehr, kann also auch nicht enttäuscht werden. Jetzt freut sie sich,
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