Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
sich nach der Wende im Dänischen Bettenlager dreimal ein neues Schlafzimmer zu bestellen. Ich dachte, die Generation davor wäre die schlimmste gewesen, die Faltenrock-Nazi-Generation. Aber die McDonald-Porno-Handy-Generation ist schlimmer. Die hat ein fatales Selbstbewusstsein durch ihre Weltliteratur – die Rabatt-Anzeigen von Lidl und Aldi – und durch ihre Busreisen nach Mallorca.
Wenn in der Zeitung steht, dass in zehn Jahren das Berliner Schloss fertig ist, denkt Gigi, dass sie dann vielleicht nicht mehr existiert: Ich würde da wahrscheinlich überhaupt nicht hingehen, aber ich möchte die Möglichkeit haben, da nicht hinzugehen, die Möglichkeit! Der Tod ist in ihrem Alltag ständig anwesend,vorwiegend als Erinnerung. Sie hat schon immer mit den Toten gelebt: Es ist ein Befehl, sich zu erinnern. Sie zeigt mir ihren Erinnerungsschrein, ein altes ausgehängtes Berliner Fenster: Wie oft mag hinter diesen alten Scheiben geweint und gestorben worden sein? Hinter dem Fenster liegen zwei eiserne Lockenwickler der Großmutter, Gigis Milchzähne und ihr erstes Ausgehkleid, gerahmt, klitzeklein, weiß, mit aufgestickten Blümchen. Das Zigarettenetui des Großvaters, ein Foto des Vaters als junger Mann, die Sofapuppe der Großmutter. Gigi möchte unsterblich werden: Nichts, was ich gemalt, gezeichnet, geschrieben oder geformt habe, soll weggeschmissen werden, wenn ich tot bin.
Die letzte Liebe? Vor acht Jahren, immer noch der Dichter, dem sie seine Bücher illustriert hat: Den habe ich nie gehabt. Er war der letzte Mann, den ich geküsst habe, im Jahr seines Todes, es war an meinem Geburtstag. Das Foto von Gigi und dem Dichter, wie sie sich küssen kurz vor seinem Tod, an ihrem Geburtstag, hängt an der Wand, Dokument eines unerfüllten Begehrens.
Flamingo
Zwei Sommer lang geht das so, er verliebt, sie verliebt, nichts geschieht. Juli auf Hiddensee, er siebzehn, sie vierzehn. Das Mädchen mit den mandelförmigen Augen schwärmt um ihn herum und ist doch nicht zu fassen, sie ist da und wieder weg. Drei oder vier Jahre später spielt er mit seiner Band im Prater. Da taucht das Mädchen auf, eine Frau nun. Sie sagt, sie wolle sich von ihm verabschieden. Sie kommt mit zu ihm nach Hause, sie verbringen die Nacht zusammen. Am Morgengeht sie, er sieht sie nie wieder, sie war in den Westen entschwunden.
An die bittersüße Romanze erinnert sich der Professor im Garten seiner Villa. Alles lange her, mehr als fünfzig Jahre. Schwarzweißfotos liegen auf dem Terrassentisch, er hat sie ewig nicht angesehen, sie regt ihn auf, die Konfrontation mit der Jugend. Michael, dickes, dunkles Haar, lachlustige Augen, Michael, der Charmingboy, mit Agnieszka aus Warschau, mit Veronika, mit Karin, mit Monika, die er später geheiratet hat. Michael mit seiner Band, sechs Jungs am gut gelaunten Anfang ihres Lebens, auf die Plätze, fertig, los! Er sehe den jungen Mann auf den Fotos durchaus mit Wohlgefallen, aber doch kritisch, sagt der Professor. Er sei ein Schmetterling gewesen, was die Frauen beträfe, hätte sich eine Weile hier und ein Weilchen da niedergelassen und sei weitergeflattert. Im Taumel des Erfolgs seien ihm ein paar menschliche Schweinereien passiert; der alte Junge zeigt späte Reue.
Mit fünfzehn hatte er mit seiner Trompete am Fenster der elterlichen Wohnung gestanden und »Das ist die Liebe im Vorübergehn« in warme Sommerabende geblasen, mit einem langen, flehenden Trompetenstoß für »Liebe«, das hat gewirkt. Einmal war er verabredet mit einem Mädchen aus seiner Straße. Die wartete mit gestärktem Petticoat, weißen Handschuhen und erwartungsvollem Lächeln auf den Trompeter. Sie stand da, er kam nicht. Sie ging in eine Telefonzelle und rief bei ihm zu Hause an. Seine Schwester war am Apparat und teilte den Verhinderungsgrund ihres Bruders mit: Michael kann nicht, Michael badet. Frisch gebadet blies der Bruder eine halbe Stunde später den Sehnsuchtstitel »Flamingo« aus dem Fenster.
Er liebte die Musik, sie brachte ihm Erfolg, aber sie wurde nicht sein Beruf. Er wollte was leisten, was entdecken, was werden. Er war fest entschlossen, sich nicht zu verzetteln, etwas zu erreichen auf seinem Gebiet, eine Kapazität zu werden auf dem Feld der Biologie. Er studierte, promovierte, habilitierte. Er erreichte, was er sich vorgenommen hatte. Er wurde eine Kapazität. Nach siebenundzwanzig Jahren fing Michael wieder an, Trompete zu spielen, suchte die alten Mitspieler zusammen: Wollen wir nicht noch mal, ehe wir alle
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