Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
Großtanten sah ich mit anhänglichem Gleichmut, fühlte mich aufgefangen im großzügig gesponnenen Netz ihrer Falten.
Die Zeit, in der ich meine Alten leben sah, war die Nachkriegszeit. Es ging um Brot und um Zigaretten, die Ami, Stella und Orient hießen, um eine Wohnung ohne Wanzen. Ich habe mir nie, auch nicht als erwachsene Frau, die Frage gestellt, ob Erna und Schorsch sich liebten, ob mein Großvater fremd gegangen ist, ob meine Großmutter je eine Romanze erlebte, und warum sie nur ein einziges Kind hatten. Bekannt hingegenwar, dass Schorsch aus Breslau stammte und Erna aus Hamburg Altona. Ernas Schwester, meine Tante Ella, hatte keinen Ehemann, aber eine Tochter, die mongolisch aussah. Tante Ella und der Mongole – das hatte mich interessiert, kam aber nie zur Sprache, ich fragte nicht danach, nicht einmal, als die asiatischen Augen im Doppelpack auftraten, nunmehr bei den Zwillingen der Tante-Ella-Tochter.
Frau Radetzkys Dutt war rotblond, obwohl Frau Radetzky alt war, über fünfzig bestimmt. Sie betrieb in einem Souterrain eine Gardinenwäscherei und -spannerei mit Heißmangelmaschine. Sie wohnte da auch und musste fast immer das elektrische Licht anknipsen oder Kerzen anzünden, denn das Tageslicht fiel nur spärlich durch die Kellerfenster. Meine Großmutter nahm mich manchmal mit zu ihr, ich durfte dort übernachten. In dem ebenholzfarbenen Ehebett ist die linke Seite frei gewesen, Herr Radetzky war an der Ostfront geblieben. Frau Radetzky erzählte manchmal von ihrem Mann: Harry konnte fesch tanzen, und pfeifen konnte er wie Ilse Werner, er aß gern Käsekuchen, aber ohne Rosinen musste er sein.
Ich betrachtete mich vor dem dreiteiligen Spiegel ihrer Frisierkommode und drückte auf die plüschweichen Pumpsprayer der gläsernen Behälter mit Lavendelwasser und Eau de Cologne – ob Frau Radetzky sie noch benutzte, wo sie doch keinen Mann mehr hatte? Das vertraute Kindheitsmuster Keller hatte sich erweitert. Die Beklemmung des Luftschutzkellers mischte sich im Radetzkyschen Wäschekeller mit einem Gefühl abenteuerlicher Sicherheit. Ihr Keller war eine Höhle, ähnlich der, die man sich aus einer Decke und zwei Stühlen bauen konnte, nur behaglicher. Ich habedie dunklen Souterrainnächte mit dem Duft nach Bügelwäsche und Heißmangelmaschine als den Gipfel der Geborgenheit erlebt.
Meine Alten bildeten einen Reigen weißhaariger, sonderbarer, meist freundlicher Menschen, die Geschenke mitbrachten, Geburtstage und Jubiläen feierten, sich über Blumentöpfe mit rosa Krepppapiermanschetten und silbernen Pappzahlen freuten und gelegentlich ungeniert rülpsten und furzten. Die ihre Gebisse in Wassergläser legten, Zigarren rauchten, seltsame Witze machten und starben. Sie hatten zwei Kriege überlebt, ihre Ersparnisse durch die Inflation verloren und wenig gegen Adolf Hitler unternommen. Sie hatten, so schien es mir, keinerlei höhere Ansprüche. Meine Alten errichteten einen weichen, warmen Schutzwall aus Fürsorge und Nachsicht um mich herum.
Auch ich war nachsichtig mit ihnen. Vermutlich deshalb habe ich nicht vergessen, was mit Oma Lieschen geschah. Auf meiner Einsegnungsfeier schlief sie fortwährend ein, was meine Mutter wütend machte. Sie sorgte dafür, dass die gesamte Gesellschaft in die Wohnung unserer Nachbarin umzog, wo die Feier ohne Oma Lieschens Schnarchen fortgesetzt wurde. Die lästige Schläferin blieb allein zurück, im Sessel, dösend. Was mag es gedacht haben, das arme, alte Lieschen, als es aufwachte und sich verlassen und mutterseelenallein wiederfand, wo es doch zu einer Familienfeier eingeladen war. Die Gründe für die Brutalität meiner Mutter lagen sechs Jahre zurück. Oma Lieschen hatte ihrem Sohn, meinem Vater, als der aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehrte, gesteckt, dass seine Frau während seiner achtjährigen Abwesenheit eine Affäremit einem Russen gehabt hatte. Wer so was macht, darf sich nicht wundern, wenn er im Alter nicht gelitten ist. Mir tat Oma Lieschen leid. Auch wegen der Charmeuse-Wäschegarnitur, die sie mir geschenkt hatte.
Nachsichtig mit meinen Alten war ich, weil ich wusste, sie würden vor mir sterben; sie waren alt, und ich war jung, meine Jugend würde ewig dauern, ich hatte Mitleid mit ihnen, die doch so kurz vor ihrem Ende standen. Jetzt bin ich so alt wie damals sie. Sophie und Julie, meine Töchter, sind jung, Philipp und Franz, meine Enkel, noch jünger. Ich werde sie nicht fragen, wie sie mich sehen, sie könnten es nicht sagen,
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