Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
nur noch einen Henkel hatten, verdächtigte sie die Hersteller des Betrugs und der Habgier. Wenn nämlich der Reißverschluss der Handtasche kaputt sei, müsse man sie wegwerfen und eine neue kaufen.
Erna litt unter chronisch entzündeten Augen und einem offenen Bein, das ihr Schmerzen bereitete und das sie zweimal täglich pudern und verbinden musste. Damit man ihre malträtierte Haut nicht sah, trug sie plattierte Strümpfe. Wenn sie mit den Fingernägeln über die Plattierten fuhr, kriegte ich eine Gänsehaut. Erna schonte sich nicht. Im Krieg hatte sie für die Familie das Wasser von der Straße geholt, unter Beschuss. Vielleicht hat sie gedacht, falls sie umkommt, trifft es ja nur die Alte, die Jungen muss man beschützen, da war sie Ende Vierzig. Ich habe meine Großmutter niemals über ihr Älterwerden jammern hören. Niemals habe ich gesehen, dass sie vor dem Spiegel stand, hängende Haut hochzog oder Cremes einmassierte. Sie hatte andere Sorgen, zum Beispiel die, ihre Tochter, meine Mutter, zu illegalen Abtreibungen zu begleiten, nach aufgeregt geflüsterten Gesprächen in der Küche, in denen es um Geld und Adressen ging.
Zuweilen stelle ich sie mir unter den gegenwärtigen, unter meinen Lebensumständen vor. Sie trüge einen taillierten Hosenanzug und einen schwarzen Rollkragenpullover, eine schlanke, brünette Frau, die ihr halblanges Haar nicht schwarz, sondern dezent braun nachfärben würde, mit ein paar hellen Strähnchen vielleicht. Ihre chronisch entzündeten Augen wären heute mit Kortisonsalbe behandelt worden und abgeheilt, auch das offene Bein. Sie würde ihre Wimpern tuschen und einen Hauch Rouge auflegen. Sie wäreGeschäftsführerin oder Hauptbuchhalterin einer Mittelstandsfirma und würde nicht wie sechzig oder fünfundsechzig aussehen, sondern wie eine elegante Frau Mitte Fünfzig. Heute hätte sie Kühlkombi, Waschmaschine und Geschirrspüler, ihr Mann würde die Hälfte der Hausarbeit übernehmen. Erna, meine Großmutter, würde öfter lachen als zu ihrer Zeit. Und länger leben.
Als sie gestorben war, hochrot geschüttelt in einem tobsüchtigen Todeskampf, überbrachte ich meinem Großvater die traurige Nachricht. Ich sah ihn vor der Haustür in der Sonne stehen, einen kleinen, alten Mann mit goldenem Gemüt, und ich wusste, dass ich das friedliche Bild im nächsten Augenblick zerstören würde. Er wurde krank vor Trauer und lebte weiter in der Wohnung, allein. Ich besuchte ihn jeden Tag. Obwohl ich einen Wohnungsschlüssel hatte, klingelte ich und war erleichtert, wenn ich sein Schlurfen hörte. Ich hatte Angst, dass es eines Tages stumm bleiben würde hinter der Tür und ich aufschließen und ihn tot sehen müsste, es war die Feigheit vor dem Tod, dabei war ich längst erwachsen. Der Kelch ging an mir vorüber, Schorsch starb im Krankenhaus. Das Unterbewusstsein bestrafte mich mit einem Alptraum, der alle paar Jahre wiederkehrt. Meine Großeltern liegen verwest in ihrem Ehebett in dem großen Berliner Zimmer zum Hof, unkenntlich, mit offenen Augen. Ich habe vergessen, sie zu begraben. Ich hatte sie zu sehr geliebt, um sie zu begraben. Ich war zu feige, sie zu begraben. Über dem Stuhl hängt die Hose meines Großvaters, Kleingeld ist unter das Bett gefallen, wie immer. Als Kind sammelte ich die Münzen auf und behielt sie, es war eine stille Übereinkunft, diesmal war das Kleingeld liegengeblieben.
Meine Alten. In Wirklichkeit ruhen sie sanft und ahnungslos in ihren Urnen. Sie kennen nicht Computer, nicht Handy, nicht Internet. Nicht Geldautomat, CD-Player, I-Pad und digitalen Fotoapparat. Ihre Moderne waren Schreibmaschine und Fernsprecher, ihr Kommunikationszentrum die Telefonzelle: Fasse dich kurz! Dass sich auf den Berliner Straßen inzwischen Menschen aller Nationen mischen, dunkle Haut mit heller, schwarze Haare mit blonden, asiatische Augen mit blauen, hätte sie zu ungläubigem Staunen veranlasst. Auch dass man Hamburg mit dem Zug von Berlin aus in eineinhalb Stunden und Leipzig in einer Stunde und zehn Minuten erreichen kann. Manche meiner Alten erlebten nicht einmal mehr die Antibabypille. Die künstliche Befruchtung hätten sie für ein Horrorszenario von Dr. Jekyll und Mister Hyde gehalten. Dass Schwule heiraten und lesbische Paare Kinder kriegen, hätten sie als Witz verstanden. Mal abgesehen von Vaterschaftstests und DNA-Analysen, und was, du lieber Himmel, ist ein Selbstmordattentäter. Über den Niedergang der Zigarette und die Tatsache, dass ein Kerl von
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