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Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Titel: Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Voigt
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weil ihnen mein Anblick zu vertraut ist, um einen realen Eindruck wiedergeben zu können. Und weil sie vermutlich ebenfalls Mitleid empfinden für die, die vor ihnen sterben werden, also für mich. Der zehnjährige Philipp erzählte seinen Schulkameraden, seine Oma beherrsche Karate und hätte den schwarzen Gürtel, fragt sie doch! Philipps Klassenkameraden starren auf mich wie auf ein Weltwunder und flüstern: Karate-Oma. Ich musste Philipp versprechen, die Sache niemals aufzuklären, demnächst will er mir ein paar Übungen seines Taekwondo-Trainings beibringen, damit ich noch glaubwürdiger wirke.
    Vielleicht werde ich für Philipp und Franz ja auch mal zur Legende wie meine Großeltern für mich. Unvorstellbar, selber einmal so alt zu werden wie die, die ihren Enkeln das früheste und vertrauteste Bild vom Alter darboten. Zwischendurch vergisst man die Großeltern. Wenn man älter wird, kehren sie ins Gedächtnis zurück. Ihr Bild wird neu zusammengepuzzelt, ergänzt durch eigene Erfahrung und ein Gefühl der Verbrüderung. Wie waren sie, meine Großeltern? Schorsch,mein runder, schnauzbärtiger Großvater, stand bei Familienfeiern am Wohnzimmertisch, legte seine Zigarre auf dem Aschenbecher ab und rezitierte die Lebensweisheiten von Otto Reutter, er konnte alle sechzehn Strophen seines Lieblingscouplets auswendig: »In fünfzig Jahren ist alles vorbei«. Es fing so an: »Denk stets, wenn etwas dir nicht gefällt / Es währt nichts ewig auf dieser Welt / Der kleinste Ärger, die größte Qual / sind nicht von Dauer, sie enden mal / Drum sei dein Trost, was immer es sei: In fünfzig Jahren ist alles vorbei«. Und endete so: »Drum: Hast du noch Wein, dann trink ihn aus / und hast du ein Mädel, dann brings nach Haus / und freu dich hier unten beim Erdenlicht / Wie’s unten ist, weißt du – wie oben nicht / Nur einmal blüht im Jahr der Mai / und in fünfzig Jahren ist alles vorbei«.
    Das Couplet, heutigen Rap-Gesängen nicht unähnlich, beschreibt präzise Schorschs Charakter und Weltsicht. Immer mit der Ruhe, in fünfzig Jahren ist alles vorbei. Die SA-Uniform, die man ihm, dem SPD-Mann, im Paket zugeschickt hatte, sandte er zurück, ohne Kommentar. Er holte belastendes Material aus der Wohnung von Onkel Rudi, seinem Schwager, der unter dem Verdacht des Widerstands stand. Nur keine Aufregung: In fünfzig Jahren ist alles vorbei. Als wir uns im letzten Moment aus dem Luftschutzkeller retten konnten, während die SS kurz vor Kriegsende das Haus über uns anzündete, auf dass die Russen nur noch verbrannte deutsche Erde vorfänden, nahm Schorsch nicht etwa eine Bettdecke mit oder einen Koffer mit Jacken und Hosen, sondern den Teekessel, sonst nichts; er wollte sich nach dem Krieg eine schöne Tasse Kaffee kochen.
    Für die harte Nachkriegszeit war er nicht gemacht. Er kam mit keiner der überfüllten Straßenbahnen mit, weil er alle anderen vorließ. Während ein Brot auf dem Schwarzen Markt hundert Mark kostete, verkaufte Schorsch in seinem Kiosk den Nachtexpress für zwanzig Pfennige, als Schieber war er ungeeignet, er konnte nur anständig sein und wäre anständig verhungert, wenn meine Mutter, seine Tochter, nicht von anderem Kaliber gewesen wäre. Sein Optimismus war von Fatalismus geprägt: In fünfzig Jahren ist alles vorbei. Das Einzige, was ihn aus der Ruhe brachte: wenn eine Glühbirne kaputt ging. Dafür machte er jedes Mal seine Frau verantwortlich: dämliches Weib. Es war die einzige Ungerechtigkeit, die ich an meinem gutmütigen Großvater feststellte.
    Als er mit mir in den Zirkus Barlay ging und in die Faust-Aufführung am Deutschen Theater, war ich zehn Jahre alt, er neunundfünfzig, das ist heutzutage kein Alter. Schorsch war gerne alt, er lebte sein Alter in vollen Zügen. Er lief watschelnd, hatte einen dicken Bauch, aß Eisbein mit Sauerkraut, ließ die Zigarre kalt werden und trug Hosenträger. Er war mit sich als altem Mann völlig einverstanden. Sein Selbstbild war identisch mit dem, das er wirklich abgab, seine Ausstrahlung: Opa. Ich liebte ihn, wie ich Erna, meine Großmutter, liebte – bedingungslos.
    Erna regte sich über alles mächtig auf, sie war vermutlich, was man hysterisch nennt. Früher, im Theaterverein, hatte sie die Elektra gegeben, da konnte sie ihr überbordendes Temperament abreagieren. Ohne Theaterverein erregte sie sich im Thema eine Nummer kleiner, in der Form dafür eine Nummer größer. Als sich die Handtaschenmode änderte und die Taschennicht mehr zwei, sondern

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