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Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Titel: Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Voigt
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hinterließ. Am Abend zuvor hatte sie mir am Telefon erzählt, dass sie gerade beim Friseur gewesen war, ihr Haar haselnussblond habe tönen lassen, und dass gleich ein schicker Film mit Mario Adorf im Fernsehen liefe. Am nächsten Morgen kam die Nachricht von ihrem Tod. Ein halber Windbeutel mit Schlagsahne stand auf dem Teewagen neben ihrem Fernsehsessel; dass sie den nicht aufgegessen hat, spricht dafür, dass der Tod sie überrascht hat, freiwillig hätte sie den Windbeutel nicht stehen lassen. Ihr Enkelkind Sophie aß den Windbeutel am nächsten Tag zu Ende und weinte dabei. Ihr Enkelkind Julie, das damals zwölf war, ging einkaufen wie immer, unterwegs aß sie eine ganze Tüte Cremehütchen auf, das Lieblingskonfekt ihrer Oma.
    Die Beerdigung fiel in das zweite Wendejahr. »Machen Sie vom Recht des Preisvergleichs Gebrauch!«,warben die östlichen Bestattungsunternehmen mit ungewohnt marktwirtschaftlicher Chuzpe, aber der Service war noch volkseigen, das Angebot beschränkt, der Verkauf schlicht. Auf einem zerschrammten Schrank aus Hellerau standen zwei vasenähnliche Gefäße, davor hockte eine ausgebleichte Blondine: Das sind unsere Urnen, wollnse die linke oder die rechte? Wo befindet sich denn die teure Tote momentan? Was, das wissense nich, werden wir gleich haben, Nummer 74 kann nicht sein, da is keen Krankenhaus, und inne Brauerei wird sie ja wohl nich liegen, ha, ha. »Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein« wollnse auf dem Friedhof spielen lassen? Na, hörnse mal, Ihre Mutter is doch keen Kind mehr, nehmse »Il silencio«, passt immer. Ich hatte keine Erfahrung im Beerdigen und machte alles so, wie die Blondine vorschlug. An die Trauerfeier kann ich mich nicht erinnern, nur daran, dass ich am Grab meiner Mutter eine Birke gepflanzt habe, was nicht gestattet war.
    Meine Alten waren alle tot. Ich war niemandes Kind mehr.

Vom Scheitel bis zur Seele – My generation
    Hope I die before I get old – Talkin’ ’bout my generation.
    The Who, 1965
    Alte verkörpern Epochen. Meine Generation, geboren in den vierziger und fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, verkörpert zwei Zeitalter simultan, Kommunismus und Kapitalismus. Kinder des Krieges und des Hungers waren wir, des Nachkriegs und des Wirtschaftswunders, des Sozialismus und der Mangelwirtschaft, je nachdem. Die Kinder der Deutschen, Zwillinge in zwei Eiern, zerstritten schon im Mutterleib, Scheidungskinder alle, das Vaterland war uneins. Die Väter waren in Kriegsgefangenschaft, die Mütter enttrümmerten die Städte, und wir, wir schoben mit dem gekrümmten Zeigefinger Glaskugeln in Löcher. Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg, gibste mir ’nen Bugger, kriegste fünf Murmeln, die Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt. Schuld von Anfang an, Schuld bis zum Schluss. Herr Richter, was spricht er, was soll der tun, dessen Pfand ich hab in meiner rechten Hand. Die Bücher meiner Kindheit hießen »Im Feuer vergangen« und »Wie der Stahl gehärtet wurde«.
    Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt – die Alten, so um die dreißig mögen sie gewesen sein, schunkelten einer satten oder lichten Zukunft entgegen, je nachdem. Bei feierlichen Anlässen, Fußballspielen und Silvester, sangen sie Einigkeit und Recht und Freiheit oder Auferstanden aus Ruinen, je nachdem.Tor, Tor, Tor, Tor, Deutschland ist Weltmeister!, schrien siegestrunken die Kriegsverlierer. Wenn einem soviel Gutes widerfährt, das ist schon einen Asbach Uralt wert. »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland«, zitierte Heiner Müller aus Eppendorf in Sachsen Paul Celan aus Czernowitz in der Bukowina. Mascha Kaléko, die vor den Nazis nach Amerika geflüchtet war, schrieb in einem Gedicht: »Verstohlen träumen wir von Wald und Wiese/Und dem uns zugeworfnen Brocken Glück/Kein Morgen bringt das Heute uns zurück/Wir haben keine andre Zeit als diese.«
    Das Vergessen ist der Schutzengel der Erinnerung – die Alten hatten ihn nötig, diesen Engel, denn die Jungen waren unerbittlich und verlangten Rechenschaft, Geständnis, Buße. Erinnere dich, Mama, du hast deine jüdische Freundin nicht mehr gegrüßt, als man begann, die Juden auszustoßen. Du hast den Lastwagen gesehen, auf dem Nelly Gustanovitz weggebracht wurde, du hast gesehen, wie ihre Unterlippe zitterte, ja, hast du. Warst du dabei, Papa, in der Ukraine, als deutsche Soldaten die Babys aus den Armen ihrer Mütter rissen? Jahrzehnte später habe ich erfahren, dass man dich mit zwanzig in die Waffen-SS

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