Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
gedrängt hatte, weil du als widerspenstig aufgefallen warst, du wolltest nicht sterben fürs Vaterland.
»Du musst wissen, wenn ich falle, bin ich nicht gern gefallen«, hattest du an deine neunzehnjährige Braut geschrieben. Brauchtest nach dem Krieg viel Schnaps, um dich nicht erinnern zu müssen, musstest immer mehr, immer mehr trinken, um dir die Schuld von der Seele zu spülen. Gesprochen hast du kein Wort über den Krieg. Als ich dich hätte fragen können, warst du schon gestorben, auf offener Straße, mit einem Netzleerer Bierflaschen in der Hand, gerade mal sechsundvierzig, mit einem verdatterten Jungsgesicht. Aus dem Krieg zurückgekehrt auf zwei Beinen und doch gefallen, armer Willi.
Tanzstunden, Seitenscheitel, Dauerwelle. Wochenend und Sonnenschein und dann mit dir im Wald allein. Vom Küssen kriegt man Kinder. Wir lernten Foxtrott und langsamen Walzer nach der Musik unserer Alten. Der Rock ’n’ Roll ist unsere Erlösung gewesen, unser Fanal, der Rock ’n’ Roll gehörte uns allein. Seine wilde Unschuld schallte durch die stillen autolosen Straßen, er machte die Autoscooter auf den Rummelplätzen zu Rennwagen und die Tanzflächen zu Bolzplätzen. Der Rock ’n’ Roll trennte uns von der Schuld unserer Alten, die die Fenster zuknallten, wenn wir unsere Kofferradios auf volle Lautstärke drehten und mit Elvis Presleys konvulsivischen Gesängen ihre Empörung übertönten.
Die Welt verändern mit der Internationele und Josef Stalin, mit Rudi Dutschke und Che Guevara, jedem trunkenen Aufbruch folgt Ernüchterung. Ein Universum ohne Anfang und Ende mit Stephen Hawking. Die Welt größer machen mit Juri Gagarin. Die Welt klüger machen mit Brecht und Sartre. Die Liebe freier machen mit Oswald Kolle und Rainer Langhans. Die Welt klingen lassen mit Glenn Gould und Louis Armstrong. Die Beatles besangen unsere Sehnsucht: »All you need is love«. Die Rolling Stones feierten unsere Wut: »I can’t get no satisfaction«. Jeans, Miniröcke, Flower power, Männer mit langen Haaren und Frauen ohne Büstenhalter, die Zeiten waren sagenhaft. Eine Generation hatte was vor, eine Generation, die sich jünger fühlte als alle anderen zuvor, eine Generation, die ihrJungsein orgiastisch feierte: Trau keinem über dreißig! Kinder von Karl Marx und Coca Cola, hoffnungsvolle Jünger der Demokratie, enttäuschte Zöglinge der sozialistischen Utopie – zwei Deutschlands und die Mauer mittendurch. Wir sind mit der Mauer aufgewachsen und gealtert. Sie fiel zusammen, fast wie von selbst, unser Land ist wieder eins. Und jetzt sind wir alt. Das Echo des Rock ’n’ Roll verhallt in den Altersheimen der Republik, wo müde Demokraten und resignierte Weltverbesserer ihren einstigen Aufbrüchen nachsinnen und milde auf Forsythien blicken. Wenn nicht alle Blütenträume reifen, kommt ein neuer Frühling. Doch da ist auch einer wie Udo Lindenberg, der sich mit dem Ruf »Alter steht für Radikalität und Meisterschaft« in die Schlacht gegen den Bedeutungsverlust wirft. Vom Scheitel bis zur Seele my generation.
Homo senex – der Alte da, das bin nicht ich!
Vergangene Zeiten sind immer schön, und wer tot ist, war ein netter Kerl.
Juliette Gréco
Der Homo senex liebt die Gewohnheit. Das Teetrinken um eine bestimmte Zeit, heute genau so wie gestern und genau so wie morgen und wie immer am kleinen runden Tisch neben dem Fenster. Alles wie immer. Der Spaziergang am Vormittag, immer dieselbe Route. Dasselbe Parfüm wie vor dreißig Jahren, L’air du temps, und Miederwaren nur von Triumph. Am Abend das Bier in immer derselben Kneipe, am immer selben Platz. Immer und ewig. Gewohnheit bewahrt Erinnerung, Erinnerung ersetzt Hoffnung. Der gegenwärtige Augenblick, so Simone de Beauvoir, sei wieder erweckte Vergangenheit und vorweggenommene Zukunft. Alles soll sein, wie es gestern war und morgen wieder sein wird, das erhält die Illusion, dass die Zeit nicht vergeht, dass alles bleibt und sein wird, wie es war. Die Illusion vom ewigen Leben wird durch Rituale fixiert. Die Gewohnheit, so de Beauvoir, verschmelze Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges. Auf diese Weise entreiße sie den alten Menschen der Zeit, die sein Feind ist. Die Gewohnheit verleihe ihm jene Ewigkeit, die er im Augenblick nicht mehr finde, sie verschaffe ihm Sicherheit und Ordnung. Gewohnheiten sind geschenkte Kompetenzen. Man muss sie nicht neu erlernen, sie sind eingeschliffen und vertraut, das Geländer, an dem man denTag abschreiten kann. Lieb gewordene
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