Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Titel: Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Voigt
Vom Netzwerk:
kollektiven Schock in eine leichtsinnige Enthüllung verwandelt hatte.
    »Da bemerkte ich«, schreibt Proust, »da bemerkte ich, der ich seit meiner Kindheit immer nur von einem Tag auf den anderen lebte und der ich mir von mir selbst und den anderen ein definitives Bild gemacht hatte, an den Metamorphosen, die sich an all diesen Leuten vollzogen hatten, zum ersten Mal die Zeit, die für sie vergangen war; das aber trug mir die bestürzende Offenbarung ein, dass sie ebenso für mich vergangenwar. Obgleich an sich etwas Gleichgültiges, verstörte mich ihr hohes Alter, da es mir das Nahen des meinigen drohend vor Augen stellte … Ich konnte mich nun wie in dem ersten wahren Spiegel sehen, dem ich begegnete, in den Augen von Greisen, die ihrer Meinung nach jung geblieben waren, so wie ich selbst es von mir meinte, und die, wenn ich mich ihnen gegenüber in dem Wunsch, sie dagegen protestieren zu hören, als Beispiel eines alten Mannes zitierte, in ihren Blicken, die mich so sahen, wie sie selbst sich nicht sahen, aber wie ich sie sah, auch nicht den Schatten eines Widerspruchs zu erkennen gaben; denn wir sahen nicht unser eigenes Bild, unser eigenes Alter, sondern jeder sah wie in einem gegenüberstehenden Spiegel einzig das des anderen.«
    Addi, das Geburtstagskind, war mit Abstand der Älteste. Als Fünfzehnjähriger war er im Zweiten Weltkrieg in das letzte Aufgebot geholt worden. Als alles vorbei war, hatte er Berlin in Trümmern fotografiert, Dokumente von elegischer Poesie. Der grenzenlose Tierfreund hatte seinem Papagei das Wort Rumbalotte beigebracht. Rumbalotte, krächzte der Vogel alle paar Minuten: Rumbalotte ehrt die Flotte! Halt den Schnabel, Maximilian!, rief der Gastgeber, hier werden keine schweinischen Witze erzählt. Früher hatte man Schnaps getrunken bei solchen Anlässen oder Zitruslimonade mit Korn gemischt, heute trinkt man Wein, man ist schließlich älter geworden, und Schnaps konsumiert in diesen Zeiten nur die Unterschicht. Was heißt hier Unterschicht, bemerkte Liane, die zu Ostzeiten ihre Neigung zum Proletkult mit Strasskleidern und Glitzerohrringen demonstriert hatte in einer Gesellschaft von Ästheten, die in angesagtem Schwarzund modischer Melancholie gingen. Sogar öffentlich verteidigte sie den Geschmack der Arbeiterklasse. »Das Recht auf Lurex und Geblümtes« hatte sie ihre Kolumne überschrieben und damit die Ästheten verärgert. Auch sie war älter geworden, weniger blond, weniger strahlend, mit Grauschleier über dem Gesicht. Blazer statt Strasskleid, an Stelle schwarzer Lacksandaletten mit schwindelhohen Absätzen flache Clarks. Ihr Lachen war dasselbe geblieben, provozierend und laut, ein Lachen, das nach Unterschicht klang.
    Rumbalotte, schrie der Papagei, Rumbalotte ehrt die Flotte! Ruhe, Maximilian!, befahl Addi dem Vogel, für Obszönitäten sind wir zu alt, ich sage nur »Ruhm und Ehre der baltischen Schwarzmeerflotte!« Alle kannten den Matrosenwitz, alle lächelten, der Witz war ein Stück aus der Welt von damals, als sie gemeinsam jung gewesen waren. Sie hatten ihren Frieden gemacht mit dem, worüber sie sich vor zwanzig Jahren aufgeregt hatten, mit dem, was sie begeistert, deprimiert oder ermutigt hatte. Die Luft war raus, wie man das so nennt.
    Liane hatte einen seltenen Gast mitgebracht: das Genie. Ein lang aufgeschossener, dünner Mann in einem violetten Mantel, er behielt den Mantel den ganzen Abend über an. Liane hatte den Gast ohne Umweg in die Küche manövriert, wo sich ein überschaubarer Kreis von Schöngeistern um eine Flasche Nordhäuser Doppelkorn gruppiert hatte und sofort damit begann, das Genie zu umschwärmen und zu bewirten, diesen Zauberer und Weltenerfinder. Seit Christoph nicht mehr seine Opernwelt erschafft, suchen ihn Phantasien in einem Alltag heim, der von Engeln bevölkert ist, nummerierten Engeln, Engel Nummer neun ist seiner.Er erzählte seinen Bewunderern von den Supermarktverkäuferinnen bei Kaisers, die hätten sich über ihn beschwert, weil er ihnen nicht Guten Tag sage, soviel Zeit müsse sein. Ich kann Ihnen doch nicht jeden Tag Guten Tag sagen, habe er erwidert. Er erzählte, dass in seiner Gegend auffällig viele Kinder geboren würden, die Frauen haben vorn und hinten eins zu hängen. Die massenhaften Zwillingskinderwagen seien ein deutliches Zeichen künstlicher Befruchtung, sie versperrten die Gehwege. Die Väter der Kinder kämen nur am Wochenende nach Hause und binden sich besitzerstolz die Babys vor die Bäuche, um sie auf

Weitere Kostenlose Bücher