Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
angesagten Marktplätzen zwischen durchsanierten Häuserzeilen und verkehrsberuhigten Zonen vorzuführen. Das seien aber nicht die richtigen Väter, das seien alles Retortenkinder, der Samen käme aus der Ukraine.
Er fühle sich überwacht, klagte Christoph, neulich hätten sich mehrere Frauen in Gymnastikanzügen, alle so um die fünfundzwanzig, um ihn geschart, das seien die Polizistinnen des Viertels, einen richtigen Polizisten habe er dort nie gesehen. In den letzten Wochen seien mehrmals zwei Männer in seiner Wohnung gewesen, der Ältere hätte sich in den Sessel gesetzt, der Jüngere hätte eins von seinen Bildern genommen und sei damit verschwunden. Das habe sich mehrmals wiederholt: Der Ältere hatte sich in den Sessel gesetzt, der Jüngere ein Bild genommen und war damit weggegangen. Christoph habe nichts dagegen tun können. Die Bilder kommen alle nach Regensburg, habe der Ältere erklärt. Die Schilderungen des Genies wurden von der Runde mit Andacht verfolgt, als geniale Eingebungen eines Phantasten, der mit einer schnöde gewordenen Welt zurechtkommen musste.
Die Schwärmerei ging alsbald ins Allgemeine über. Man erzählte von früher, als die Theaterbühnen noch nicht von Gestalten in Unterhosen und Trenchcoats besetzt waren, die Cosi fan tutte oder Don Carlos zu spielen versuchten. Als es nicht um Geld gegangen war, sondern um Kunst. Als die Mädchen schönere Gesichter hatten und New York noch ein Sehnsuchtsort war. Gerd, ihr erinnert euch, der Architekt, der hat mal nachts um zwei zur laut gedrehten Figaro-Ouvertüre Twist getanzt. Mensch, der ist jetzt sechsundachtzig, bemerkte einer. Im Osten konnte man sich auf sein Alter freuen, sagte Addi, mit fünfundsechzig durfte man in den Westen, das hat sich nun auch erledigt. Wie sehn wir denn aus!, rief Liane theatralisch, was ist denn aus uns geworden? Und verließ die schwärmerische Runde.
Der alte Freund
Man braucht sehr lange, um jung zu werden.
Pablo Picasso
Ein alter Freund ist Kronzeuge der eigenen Jugend. Er kennt die Pläne, die realisierten und die nicht realisierten, er kann die Spanne zwischen Erwartung und Erfüllung, Idee und Verrat beurteilen. Er ist Mitwisser der Versprechen, der eingelösten und der nicht eingelösten, er weiß vom Anfang und ahnt das Ende. Ein alter Freund ist wie ein verjährter Taschenkalender, ein Erinnerungsstück. Von einem alten Freund erwartet man nicht so viel, er erfüllt die Funktion des Weißt-du-noch, doch es gibt keine Nabelschnur mehr. Möglich auch, dass Freundschaft gesetzmäßig abebbt, wie eine Welle, auf der man eine Weile gemeinsam geschwommen ist und die irgendwann versandet. Doch die Gischt bleibt lebenslang.
In jener Zeit, als man aus geöffneten Fenstern, selten aber demonstrativ, Armstrongs »Sunny Side of the Street« hören konnte, als der Lyriker Jewgeni Jewtuschenko auf dem Majakowskiplatz in Moskau vor Tausenden junger Russen das Zeitgefühl seiner Generation zu Versen verdichtete und der englische Schauspieler Albert Finney in dem Film »Samstagnacht und Sonntagmorgen« den Aufruhr seiner Jugend mit einem ohnmächtigen Steinwurf beendete – damals begann unsere Freundschaft. Tom war aus den kleinen Ortschaften in die großen Städte gekommen. Mit dem warmen weichenHerzen des Provinzlers und dem muffligen Charme eines seinerzeit beliebten amerikanischen Schauspielers eroberte er die Studierstuben der Hauptstadt. Die Fundamente seiner Lebensanschauung waren El Lissitzky und Raymond Chandler. Die revolutionäre Ästhetik des einen und die müde Männlichkeit des Philip Marlowe reichten vorerst aus, die eigene Persönlichkeit fest zu machen. Wie er das Klare schätzte in der Arbeit, hatte unser Freund im Privatleben das Geheimnisvolle geliebt. Zwischen den Lippen die F6, vor den Augen die dunkle Sonnenbrille, mit einer fremden Frau Eisenbahn fahren – das machte ihm Spaß. Keiner konnte Charleston tanzen wie unser alter Freund. Als hätte er ein erstes Leben in den zwanziger Jahren gelebt. Außerdem tanzte man verliebt nach dem Tennessee-Waltz.
Tom hatte sich viel vorgenommen. Weg mit den Schnörkeln und den Blümchentapeten, her mit weißen Tassen und weißen Wänden. Auf seinem Gebiet war er ein Stürmer und Dränger gewesen, ein Weltverbesserer dazu. Über die Gestaltung einer Kaffeemühlenverpackung redeten er und seine Freunde ganze Nächte lang. Sie verbrüderten sich bei Stierblut und Weinbrand Edel, einig im Radikalismus gegen Bürgerlichkeit und Kitsch. Als er sich einen
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