Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
ich sehe, dass sie schon damals ein wunderschönes Gesicht gehabt haben muss, denn sie hat es immer noch.
Ich bin jetzt beinahe doppelt so alt wie auf dem Bild, sagt Astrid, eine ältere Frau, wie man so sagt. Sie werde glücklicherweise noch immer über ihre Größe definiert, zudem trage sie immer noch gern hohe Absätze. So ne große Dunkle – das würde ihr als Beschreibung ihrer Person gefallen. Als sie fünfzig wurde, war sie in Rom. Da ist es zum ersten Mal passiert – die Bauarbeiter auf der Straße pfiffen nicht hinter ihr her. IhrLeben lang hatte sie die Straßenseite gewechselt, um solchen Pfiffen auszuweichen, plötzlich vermisste sie das heisere Ciao Bella.
Sie verliebt sich manchmal in jüngere Männer: Es ist dasselbe Gefühl wie mit achtzehn, nur intensiver. Man isst vor Aufregung nicht, man trinkt vor Aufregung nicht, man sieht gut aus, man ist eben verliebt. Dazu kommt allerdings der Gedanke: Ist es vielleicht das letzte Mal? Tröstlich am Älterwerden sei, dass man nicht mehr ausschließlich als sexuelles Wesen gesehen werde, die Erotik behindert nicht mehr die Freundschaft mit Männern.
Kürzlich hatte sie eine Affäre mit einem Mann, der erst sechsunddreißig war. An einem lauen Abend war sie mit Benjamin auf dem Weg ins Kino, da sah sie von weitem einen Bekannten, der, so schien es, ebenfalls ins Kino wollte. Sie sagte zu ihrem Liebhaber: Ach weißt du, Benni, es ist so ein schöner milder Abend, lassen wir das Kino, gehen wir spazieren! Sie fürchtete, dass der alte Bekannte fragen könnte: Dein Sohn? Frauen, auch ältere, verlieben sich immer, als wäre es das erste Mal, ohne Wenn und Aber, sagt Astrid, ältere Männer schleppen ihre Kränkungen ein Leben lang mit sich rum, sie lassen sich nicht mehr so unbedingt auf was ein.
Älterwerden hat durchaus komische Seiten, meint Astrid, sie sei neuerdings mitteilsam wie ihre Mutter: Gucken Sie mal, das ist meine kleine Enkeltochter, vertraute meine Mutter dem unbekannten Kassierer bei Edeka an, ihr Papa ist aus Chile, plauschte sie, und meine Tochter, die arbeitet im Bundestag. So was fand Astrid vor zwei Jahren noch unmöglich. Neuerdings beobachtet sie dasselbe an sich. Sie erzählt dem türkischenGemüsehändler am Bahnhof, dass gestern die Fruchtblase ihrer Schwiegertochter geplatzt ist: Man kann in meinem Alter ruhig ein bisschen mehr von sich preisgeben, es spielt eh keine Rolle mehr. Sie führe neuerdings auch Selbstgespräche: Neulich habe ich mir zwei Windbeutel mit Sahne gekauft. Nachdem ich die zu Hause gegessen hatte, sprach ich in einer Mischung aus schlechtem Gewissen und großer Befriedigung vor mich hin: Was hast du denn jetzt wieder gemacht, zwei Windbeutel, zwei! Na, ja, willst du denn noch Model werden, nein, willst du nicht.
Wie sehn wir denn aus!
… denn wir sahen nicht unser eigenes Bild, unser eigenes Alter, sondern jeder sah wie in einem gegenüberstehenden Spiegel einzig das des anderen.
Marcel Proust
Sie trafen sich nach zwanzig Jahren in einem Haus auf dem Land, das umgeben war von Äckern und Feldern, der Hausherr feierte einen runden Geburtstag. Die alten Freunde waren sich lange nicht begegnet, sie hatten sich als Mittvierziger aus den Augen verloren und sahen sich als Sechzigjährige wieder; nach der Wende hatte jeder mit sich zu tun gehabt. Was für ein Wiedersehen! Jens, der einst auf Rollschuhen über das Parkett der Altbauwohnungen seiner Freunde gerollt war, um seine Unangepasstheit zu demonstrieren, kam in seriösen Herrenschnürschuhen und eleganter Hose, die seine breiter gewordenen Hüften umspielte. Anstatt über Andy Warhol oder Richard Avedon zu diskutieren, suchte er jemanden, der über sein, Jensens Œuvre, in der Zeitung schreiben könnte, es werde Zeit, dass seine künstlerische Arbeit umfassend gewürdigt werde. Jochen, der Engel mit den langen blonden Haaren, sah mit zwanzig Kilo mehr Gewicht richtig gemütlich aus, sein Gesicht war so rosig und glatt wie seine Glatze. Sein Äußeres passte jetzt bestens zu der Betulichkeit, die mal in merkwürdigem Gegensatz zu seiner Schönheit gestanden hatte. Vanessa, ein ehemaliges Model, hatte sich in einen völlig anderen Typ verwandelt. Ihr kurzes schwarzes Haar hatte sie blond färben und zum Worpswede-Bob schneiden lassen, ihre einst markantenMarlene-Wangen waren breit und prall, sie sah jünger aus, als sie war, dafür beliebig wie viele fünfzigjährige Blondinen, die was auf sich halten. Karen, die Visagistin, seriös gealtert, wirkte prekär
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