Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
grazie, Signore, tutto bene. Die Heizung wird warm. Erst spät am Vormittag bemerken sie, dass es schwül ist an diesem Sonntag in Venedig.
Wir wollten doch bei Cartuzzo vorbeischauen, sagt Konrad. Erst frühstücken gehen, schlägt Sylvie vor. Sie fahren mit der Gondelfähre zum Fischmarkt rüber, für fünfzig Cent. Eine Gondelfahrt, wie asiatische Touristen sie unternehmen, wäre nicht nur teurer, sondern peinlich. Obwohl der goldene Anlass in ihrem Fall die Mittel, also die Gondel, heiligen würde – es wäre lächerlich. Als Nutzfahrzeug für drei Minuten aber ist die Gondel traumhaft. Beim Aussteigen hält Sylvie ihren Mann leicht hysterisch am Jackenärmel fest, auf Wasserwegen ist sie generell besorgt um ihn, er ist Nichtschwimmer und wasserscheu.
Ich weiß, was du jetzt sagen willst: »Sonne! Morgenlicht auf den Kanälen, komm, bad’ mein Angesicht in deinem Gold!« – Konrads venezianisches Standardzitat. »Morgenlicht auf den Garnelen!«, korrigiert er angesichts des rosaroten Gewimmels von Meerestierenauf den Markttischen der Händler, rote und grüne Markisen werfen magisches Licht.
»Das Licht flimmert in den Regentropfen; da war meine Jugend vorbei.«
Sylvie guckt besorgt: Ist was mit deinen Augen?
Nein, das hat Brecht auf einem Zeitungsrand vermerkt, im dänischen Exil, 1939, da war er einundvierzig.
Wir sind älter, aber unsere Jugend ist nicht vorbei, jedenfalls nicht heute, beschließt Sylvie.
Neben dem Fischmarkt ist die Frühstücksbar, zu der sie jedesmal gehen, wenn sie in Venedig sind. Sie sitzen auf einer Holzbank, essen Weißbrote mit Stockfisch, trinken Kaffee und atmen den Duft von frischen Fischen.
Fünfzig multipliziert mit dreihundertfünfundsechzig abzüglich Dienstreisen und sonstige Absenzen – sie haben rund gerechnet siebzehntausend Mal zusammen gefrühstückt. Siebzehntausend Mal demselben Menschen gegenüber sitzen, siebzehntausendmal als erstes am Morgen sein Gesicht mit der tief eingegrabenen Zornesfalte sehen. Seine Art, in den Toast zu beißen, den Tee zu trinken aus einer Tasse, die links vom Teller stehen muss, und am liebsten mit Kandiszucker. Seine Art, die Kiwi aufzuschneiden und das Herz der Frucht nicht mitzuessen, sondern Sylvie rüber zu schieben. Konrad ist der Mensch, den sie am längsten und genauesten kennt. Sie kennen sich, soweit zwei sich kennen können. Die Grenze, die zwischen Menschen verläuft, sie bleibt. Einmal Zwei ist Zwei.
Ich wundere mich, dass ich mich nicht langweile mit dir, wo du doch eigentlich langweilig bist. Konrad lächelt: Dein Kopfschütteln begleitet mich durchsLeben. Nichts amüsiert ihn mehr, als wenn sie seine Mimik nachahmt, seit sich etwas misanthropisch Betrübtes, resignativ Vorwurfsvolles, ja Eingeschnapptes in seine Züge gegraben hat. Sylvie performt ihr Gesicht zu seinem, und Konrad lacht über den kuriosen Spiegel, der ihm da vorgehalten wird. In andere Spiegel als in Sylvies Gesicht sieht er ungern. Wer ist der mürrische Alte?, fragt er sich, wenn er auf sein Spiegelbild in einer Schaufensterscheibe stößt. Du musst anders denken, dann siehst du auch anders aus, rät Sylvie. Sie darf alles sagen, was Spaß macht, die Regeln sind eingespielt.
Wir wollten doch bei Cartuzzo vorbeischauen, sagt Konrad. Vorbei schauen, so was sagt er sonst nie: vorbei schauen! Sylvie hat eine Abneigung gegen Friedhöfe, Konrad glaubt, sie mit der Anspielung an einen fernen Flirt locken zu können. Cartuzzo, Italiener, berühmt, liegt auf der Toteninsel begraben. Möchten Sie meine Geliebte werden?, hatte er Sylvia nach einem flüchtigen Flirt gefragt. Nein, ich kenne Sie ja kaum, hatte sie geantwortet. Da ist er tief gekränkt gewesen, denn er war außerordentlich auf seine Mannesehre bedacht. An jenem Abend hatte er in Erobererlaune vor lauter Leidenschaft sämtliche Pässe verloren, fatal zu Zeiten des Kalten Krieges. Der Italiener hatte ihr leid getan, aber nicht so leid. Zur Toteninsel willst du? Konrad nickt, sie brechen auf.
Zu den Gräbern ihrer Eltern und Großeltern geht Sylvia nicht, vor Sargläden spuckt sie dreimal aus, das Requiem von Mozart stimmt sie traurig. Wenn in ihrer Kindheit im Radio das Lied vom Sonntag kam, was ihre Mutter stets mitsang, konnte sie die Tränen nicht zurückhalten: »Alle Tage ist kein Sonntag, alle Tagegibt’s kein Wein, aber du sollst alle Tage recht lieb zu mir sein« – dann der gezielte Schuss aus dem Hinterhalt: »Und wenn ich mal tot bin, sollst du denken an mich, jeden Abend, wenn
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