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Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Titel: Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Voigt
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du einschläfst, aber weinen sollst du nicht« – Sylvie weinte vor allem, weil sie nicht weinen sollte. Konrad sieht das Totenwesen rein ästhetisch. Mozarts Requiem ist für ihn nicht der Tod, sondern eine Partitur. Traurigkeit müsse einen Grund haben, nicht nur eine Stimmung, Mozart ist das Leben, ob in bewegtem oder unbewegtem Zustand, deshalb könne er sich das Mozartstück auf seiner Beerdigung vorstellen.
    Ist ein Requiem nicht ein bisschen beliebig? Warum nimmst du nicht die Zauberflöte?
    Weil »Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen« nicht passt.
    Du bist doch sonst nicht so puristisch.
    Bei meinem Tod hört der Spaß auf.
    Schade, hatte Sylvie gesagt. Besser, du liegst platt wie eine Leiche und stehst plötzlich wieder auf, und der Spaß ginge weiter.
    Da stimmte Konrad ein Lied an, das Sylvie schon immer gegruselt hatte: »Es ist ein Schnitter, der heißt Tod, hat G’walt vom großen Gott«. Er sang es wie ein Wiegenlied, in dem man das Totenglöckchen läuten hört: »Hüt dich, feins Blümlein«.
    Letzten Sommer war ein Fest auf dem Hof vom Brecht-Haus in der Chausseestraße. Im Schein der Abendsonne, kurz vor Toresschluss, kamen einige Sommerfestgäste auf die Idee, den angrenzenden Friedhof zu besuchen. Mit vollen Weingläsern traten sie an die Gräber ihrer Freunde: Auf dein Wohl, Klaus! Prost Ingrid! Es wurde viel gelacht. Die Lebenden hatten denEindruck, dass die Toten ihnen das nicht übelnehmen, die Grenze zwischen Sein und Nichtsein verschwand. Prost Ekke! Auf dein Wohl, Heiner! Lebende und Tote gehören zusammen, ad plures ire sagten die Römer zum Sterben: Dahin gehen, wo die meisten sind.
    Beerdigungen sind die Partys der Alten. Man hat sich darauf eingestellt und schätzt das Wiedersehen. Man trifft Freunde und Bekannte, die man lange nicht gesehen hat, früher begegnete man sich auf Empfängen, heute auf Beerdigungen: Man sieht sich ja sonst nicht. Man guckt, ob jemand da ist, den man erkennen müsste, ein Gleichaltriger, der älter aussieht als man selber, einer, der am Stock geht. Was war der mal für ein attraktiver Mann, was für eine Femme fatale ist die gewesen! Man registriert die Enttäuschung in einem Gesicht, das sich nicht wiedererkannt sieht. Die Freude einer Bekannten, die man begrüßt, als hätte man sich gestern erst verabschiedet; sie ist erkennbar, und doch sind die Verwüstungen, die das Alter der blonden Schönheit zugefügt hat, ein Schock, weil man weiß, dass die Verformungen auch das eigene Gesicht, die eigene Gestalt nicht verschont haben. Die Aktien des Lebens fallen, die Schlange der Kondolierenden wird kürzer. Die Überlebenden freuen sich, dass sie noch da sind, dass sie überlebt haben; ja, was denn überlebt, die Welt, die ihnen vertraut gewesen ist, die Freunde, die Kollegen, die Nachbarn? Die Zeugen des eigenen Lebens treten ab, bald ist keiner mehr da, der einen noch jung kennt. Der sich daran erinnert, dass man mal hübsch war, schlank, lustig, ungerecht. Wie man betrunken und kurzsichtig in der dunklen Nachtbar eine Serviette mit Messer und Gabel zu zerschneiden versuchte, in der Annahme, man habe ein Salatblattvor sich. Wie obsessiv man seine Überzeugungen verteidigte, seine Meinungen, seine Sicht auf das Leben. Immer seltener kann man es sagen, dieses: Weißt du noch.
    Je älter man wird, desto mehr Totenfeiern sind zu absolvieren. Man muss nicht lange überlegen, was man anzieht zum geselligen Ereignis. Man hat sich vor Jahren einen anthrazitfarbenen Anzug zugelegt, ein schlichtes Kleid angeschafft, grau, um nicht schwärzer zu erscheinen als die nächsten Angehörigen, das wäre overdressed. Natürlich büßt die Beerdigungsgarderobe mit den Jahren ihre Aktualität ein. Zu Beerdigungen kommen lauter Leute zusammen, die altmodisch gekleidet sind, die Revers sind schmal, wo sie neuerdings breit sein sollten, das Kleid hat Rüschen, auch wenn man längst keine Rüschen mehr trägt. Keiner guckt, wer was an hat auf einer Beerdigung, vermutlich doch dasselbe wie voriges Mal.
    Und während man auf dem Friedhof steht und fröstelt, fragt man sich, wer der Nächste sein könnte. Vor zwei Jahren war es Markus, voriges Jahr Katharina, nun ist es Stefan, bilanziert eine Witwe, wir können eigentlich den halben Friedhof mieten. Dann will ich auf die andere Hälfte, murmelt Konrad mit unbewegtem Gesicht. Da kommt Dr. Fedrich, der Gynäkologe, angestürmt, in wehendem Regenmantel, und umarmt Sylvia: Mensch, der Stefan! Weißt du noch, wie wir seinen

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