Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens
Steine, immer dieselben, und legt sie an, Stück für Stück, bis sie alle sind, dann ist die Partie beendet. Sie erkennen sich sozusagen immer wieder aufs Neue neu, so geht ihnen nie der Gesprächsstoff aus. Sie spielen, dass sie sich nicht durchschaut haben. Einen Gewinner gibt es nicht und Verlierer auch nicht. Mitunter kommen Varianten ins Spiel. Heute fügt Sylvie dem alten Ornament einen neuen Stein ein:
Hättest du vor fünfzig Jahren schon so manisch zitiert, hätte ich dich nicht geheiratet.
Du irrst dich, damals habe ich mehr zitiert als heute, ich habe es dir nur nicht verraten, du solltest denken, es ist von mir.
Und ich habe dich bewundert, was für gebildete Reden du führst, und so schlagfertig!
Alles nur geklaut, sagt Konrad.
Die Prinzen, stöhnt Sylvie, schon wieder ein Zitat!
Herbst auf der Toteninsel, die frei auf der Lagune treibt. Gott schütze die Königin! ruft Diener Franke über den Friedhof; es ist niemand in der Nähe, sie stehen allein auf dem ummauerten Gräberfeld, einem von vielen. Drüben, in San Marco und in Dorsoduro, da ist das Leben, die Toten hier sind verbannt worden wie Schüler, die der Lehrer zur Strafe vor die Tür geschickthat. Es riecht nach Moder und verblühten Astern. Eine ganze Insel für die Toten! Sie schlendern durch die Gräberreihen – wo ist das Grab von Cartuzzo? In verrotteten Vasen verwelken rote Rosen, das geht schnell im Süden, die Grabstellen haben keine Bepflanzung, sie sehen nackt aus, kahl, allein gelassen, kaltes Konzentrat der Morbidezza von Venedig. Viele Vasen stehen leer, aber die Ewigen Lichter flackern; wer kommt denn hier die Batterien auswechseln?
Konrad bleibt stehen: Das Foto im Venedig-Führer zeigt um die Gräber herum ein Blumenmeer, Rosen, Chrysanthemen, Gladiolen, Sonnenblumen.
Das haben die natürlich an einem Feiertag fotografiert, belehrt ihn Sylvie.
Dann blicke um dich, sagt Konrad, heute ist Allerheiligen, »Tutti i Santi« stand dick gedruckt auf dem »Il gazzettino«.
Die Zeitungen lügen, alle, in Venedig, in Berlin, in Los Angeles, sagt Sylvie im Weitergehen, und du klagst nun das angekündigte Blumenmeer ein. Wann ist Cartuzzo eigentlich gestorben?
Zehn Jahre nur dürfen die Beigesetzten in ihren Gräbern verweilen, danach werden ihre Knochen wegen Platzmangels im Beinhaus des Friedhofs aufbewahrt, anonym. Nur wer in Venedig wohnt oder geboren wurde, hat das Recht, hier zu sein. Die Leichen werden von Totenschiffern in Booten hergebracht. Konrad erinnert sich, dass auch Luigi Nono hier liegt, der vom Proletariat so begeisterte wie enttäuschte Meister der modernen Musik, dessen Alterswerk »Prometeo« die Stille preist, »den einen leisen Ton, auf den alles ankommt«. Und ihm fällt ein, dass der Komponist Hanns Eisler, als er auf einem Grabstein las »Wirsind nur Gast auf dieser Erde«, gefragt hatte: Wo ist der Wirt, ich möchte mich beschweren!
Grabsteine in der üblichen Form gibt es hier nicht. Dafür sind steinerne Tafeln aufgestellt, etwa in der Größe eines Dinnertabletts, blaue, braune, die meisten weiß, manche etwas kleiner, etliche größer. Eingraviert sind Geburts- und Sterbedatum sowie Beruf und Rang, daneben eine Porträtfotografie der Hingeschiedenen. Keine bigotten Sprüche, lediglich Auskünfte und das Lichtbild. Die flachen Rechtecke erinnern an die Cartes de visite, die in der Frühzeit der Fotografie in den Salons des Biedermeier in Mode kamen. Der Besucher ließ seine Visitenkarte mit Name, Titel und Konterfei da. Hier nun dasselbe auf Marmor. Jeder Tote hat nach seinem Besuch auf dieser Erde seine persönliche Karte hinterlassen, er sieht dich an, und du fühlst dich gemeint; eine riesige Ansammlung von Blicken ringsherum.
Die Toten lachen von ihren Porträts mitten aus dem Leben. Das Lachen der Toten aus Erdenzeiten, es bekommt jenseitige Bedeutung. Sie lachen, weil sie mehr wissen als wir, sie haben den Tod erfahren, sie wissen Bescheid. Öfter fehlt das Geburtsdatum. Giorgio Bartelli mit weißem Hut und großer Geste, in Bühnenpose, ein Künstler wohl, nur sein Sterbedatum steht auf dem Stein, das Geburtsdatum verschweigt der vitale Tote. Womöglich hat Bartelli sich zu Lebzeiten zehn Jahre jünger geschummelt, was die Hinterbliebenen über den Tod hinaus gelten lassen, was soll das Publikum sagen, wenn es im Nachhinein bemerkt, dass der Künstler älter war, als er sie glauben machte.
Ein guter Ruf reicht über den Tod hinaus, er wird sogar besser, de mortuis nil nisi bene, über die
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