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Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Titel: Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Voigt
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denen sich Enttäuschung breit macht: Ach, so. Auf Konrads Gesicht, das kann man sehen, reift die Einsicht, dass die Sommerzeit doch erst neunzehnhundertachtzig in der DDR eingeführt wurde. Als das Telefonat beendet ist, lächelt er wie ein ertappter Pennäler. Die Sommerzeit gab es schon bei den Nazis, daran kann ich mich genau erinnern, beharrt er trotzig, wie einer, der kapituliert, aber keine weiße Fahne aus dem Fenster hängen will: Herrmann Göring hat das damals im Radio verkündet.
    Deine verdorbene Jungvolk-Kindheit schleicht dir dein Leben lang nach.
    Dafür muss man allerdings mein Gedächtnis haben, ich weiß noch alles und lebe, wenn ich will, in Bromberg.
    Bydgoszcz heißt das, Bydgoszcz, oder bist du dem Bund der Vertriebenen beigetreten.
    Konrad hatte Sylvie mal von einem Nachmittag erzählt, der in seinem Gedächtnis eingraviert sei. Es gab einen Tag in Bromberg, da war er neun und saß bei seinen Schularbeiten am Schreibtisch im Herrenzimmer. Ein trüber Februarnachmittag, im Radio lief Trauermusik. Dass die Tage hin und hin gehen, unbemerkt und niemals wieder, als hätte es sie nie gegeben! Da hat er einen Entschluss gefasst: Der heutige Tag, dieser eine, der ereignislos wie alle anderen vorüber zu gehen schien, sollte bleiben, nicht vergehen wie alle anderen, so wollte es der kleine Konrad. Er schrieb mit seinem Federhalter das Datum dieses Tages auf den blumengemusterten Seidenschirm der Tischlampe. Die Trauermusik im Radio war wegen der Vernichtung der 6. Armee bei Stalingrad. Deshalb weiß er heute, welchen Tag er damals auf der Tischlampe verewigt hatte, es war der 3. Februar 1943.
    Sylvie bittet den Kellner, ein Foto zu machen. Zu Hause werden sie feststellen, dass es nicht taugt als Hochzeitsreisebild aus Venedig. Konrad steht x-beinig da, eingeknickt, Verlierer in Sachen Sommerzeit. Sylvia sieht man die vergebliche Liebesmüh an, ein bisschen Glanz in die Szene zu bringen. Guck mal, was ich hier habe – sie kramt ein am Bildrand gezacktes Schwarzweißfoto aus ihrer Handtasche, das Original-Hochzeitsfoto vor dem Standesamt Berlin Prenzlauer Berg.Ein trüber Tag vor fünfzig Jahren, Nieselregen, Sturm, dunkle Wolken. Trauzeugen keine, das Paar war allein. Ein Schuljunge kam vorbei: Hier, knips uns mal! Sylvie hat ein im Nacken gebundenes weißes Kopftuch um auf dem Foto und hält einen Strauß weißer Nelken eingewickelt in der Hand, keiner sollte sehen, dass eben ihre Trauung stattgefunden hatte, die Hochzeit war ihr Geheimnis. Konrad sieht in die Kamera mit einem unaufklärbaren Ausdruck von schlechtem Gewissen.
    Warum guckst du eigentlich wie ein Heiratsschwindler auf unserem Hochzeitsfoto? Wollte ich dich schon immer mal fragen.
    Ich gucke nicht wie ein Heiratsschwindler, ich blicke nachdenklich, ein reifer Mann, du dagegen musstest nicht viel nachdenken, du hast einfach einen guten Griff getan, mit achtzehn.
    Du warst ein Sonderangebot, da greift man zu.
    Sie hebt das Glas: Man darf, wie gesagt, nicht zu viel erwarten von der Ehe.
    Sie stoßen an: Ich wusste schon immer, dass du mal Hängebäckchen kriegst, Sylvie.
    Das hast du mir bereits vier Wochen nach unserem Kennenlernen gesagt.
    Ich hätte auch sagen können: Mit dir möchte ich alt werden.
    Da muss Sylvie ein bisschen weinen.
    Sie bleiben bis zum Abend in Murano und trinken auf einem von dichten Bäumen umstandenen Platz Spritz mit Aperol, wegen der sonnigen Farbe, die in den trüben Tag leuchtet. Bis Januar haben wir frei, sagt Sylvie, kein CT- Termin, nichts. Die können uns alle mal, die Chirurgen, die Radiologen, die Urologen, sagt Konrad, die Sache ist traurig, aber nicht tragisch.Wenn mir das mit dreißig passiert wäre, das wäre tragisch. Man weiß nie, wie spät es ist, hatte vergangenen Herbst ein Gastwirt in Quedlinburg gesagt, als sie überlegten, ob sie noch einen Korn trinken sollten zu später Stunde: Nehmen Sie ruhig noch einen, man weiß nie, wie spät es ist.
    Irgendwann hört es auf zu regnen, und sie nehmen noch einen Spritz. Man weiß nie, wie spät es ist. Konrad hat seine Armbanduhr schon vor Jahren zehn Minuten vorgestellt und freut sich seitdem darüber, dass es nie so spät ist, wie es scheint.

ECHO V
    Die Jugend, ach, die Jugend!
    Vielleicht waren hunderfünfzig Euro doch zu wenig, grübelt der Puppenspieler am Stehtisch bei Lohrentz, einer der letzten Berliner Eckkneipen. Das alte Wirtsehepaar hinter der langen Theke zapft steife Biere, Zapfzeit sechs Minuten. Gestern hat der Puppenspieler auf

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