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Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens

Titel: Spaetvorstellung - von den Abenteuern des Aelterwerdens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Voigt
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Totennichts als Gutes. Konrad ist da anders, er streitet mit seinen Freunden über den Tod hinaus. Er streitet sich über das, worüber er zu ihren Lebzeiten mit ihnen gestritten hat, er nimmt ihnen übel, was er ihnen zu Lebzeiten übel genommen hat. Dass Rudolf ihm bei seinem Besuch in Paris Ziegenkäse untergejubelt hatte, gegen den Konrad eine unüberwindliche Abneigung hat: Hahaha, hast du gar nicht gemerkt. Der Camilla kreidet er in alle Ewigkeit die Wandlung ihrer politischen Überzeugungen an, einem anderen toten Freund seine blöde Fixiertheit auf Adorno. Für mich sind die nicht tot, sagt Konrad.
    Ich will hier weg, verlangt er plötzlich, die Toten auf den Fotos sprechen, sie tun es im Chor: Eben waren wir auch noch da drüben, wo du nachher wieder anlanden wirst. Gestern waren wir noch shoppen in der Nuova Strada wie du, am Abend haben wir uns La Traviata angehört, sind danach auf einen Vino zu Gianni gegangen wie du, oder warst du bei Timon? Komm nur, komm zu uns, es ist schön hier und still, hörst du? Warte nur, balde ruhest du auch, frohlocken sie. Ich will hier weg, wiederholt Konrad nun dringlicher. Sylvia sieht ihn erschrocken an, seine Stimmung überträgt sich auf sie. Der Boden, so scheint ihr jetzt, schwankt, ihr ist, als höre sie das Wasser an die Insel schwappen. Die geisterblassen Steinengel heben die Flügel, als wollten sie sie an ihr kaltes Herz drücken. Die hohen Urnengrabmauern machen ihr Platzangst. Weg will sie, nach Murano will sie, auf die Glas- und Perleninsel gleich nebenan, Stockfisch essen.
    Cartuzzos Grab war nicht dabei; Konrad will nicht zur Friedhofsverwaltung und die Listen der Berühmten sehen, soll der Signore doch beleidigt sein wie damals,als Sylvie ihm einen Korb gab. Er behauptet, dass er den Scirocco spürt, den schwülen, feuchten Wind, der Gustav Aschenbach anwehte kurz vor seinem Tod in Venedig: Der Scirocco, ich habe Herzschmerzen! Jetzt übertreibst du, sagt Sylvie in heimlichem Einverständnis: »Kommt Kinder, wir wollen die Puppen wegpacken und die Kiste schließen, denn unser Spiel ist zu Ende«. Wo hast du denn das her? fragt Konrad. Hab ich mir gemerkt, staunste, »Jahrmarkt der Eitelkeiten« von Thackeray.
    Auf dem Vaporetto sind sie neben einem älteren Mann und einem brüllenden Kind die einzigen Fahrgäste und etwas ermattet von der Totentour, sie sind nicht mehr dreißig. Nach einer Weile sagt Konrad, Sylvia möge höllisch auf sich achtgeben, damit sie nicht vor ihm stirbt – dann käme er ihr hinterher, auf der Stelle!
    Machst du nicht, entgegnet sie, es soll einer da sein, der an mich denkt, so.
    Damit könne er nicht dienen, auch als Diener Franke nicht, er wolle einfach weiter mit ihr zusammen sein, das sei rein praktisch gedacht.
    Das Gespräch ist zu Ende, die Toteninsel außer Sicht, sie sitzen schweigend. Andererseits, erklärt Konrad nach einer Weile, andererseits: Nur wenn ich am Leben bin, kann ich merken, wie du mir fehlst.
    Dann legt das Schiff in Murano an. Dort gibt es Glasgeschäfte, nichts als Glasgeschäfte, die glitzern und glänzen wie Paläste auf einer Märchenbühne, durchsichtig, leuchtend. Schön hier, sagt Konrad, den für gewöhnlich nur Buchläden und Copyshops interessieren, so lebendig! Ganz gegen seine Gewohnheit begleitet der den Toten Entlaufene Sylvie in die Glaspaläste.Sie kaufen drei gläserne Weihnachtsbäumchen für zu Hause und eine karmesinrote Perlenkette für Sylvie. Sie legt die Kette gleich um, Konrad schließt sie an ihrem Hals, als handele es sich um ein Diamantkollier in einem Film mit Elizabeth Taylor und Richard Burton, sie spielen Hollywood in Venedig.
    Beim Essen streiten sie um die Einführung der Sommerzeit. Er behauptet, dass es die Sommerzeit zuerst in der DDR gab, nicht im Westen. Sylvie meint, dass sie in der DDR erst eingeführt wurde, nachdem ganz Europa auf Sommerzeit umgestellt war. Am liebsten allerdings hätte man im Osten alles auf Normalzeit gelassen, dann wäre die Tagesschau im Westfernsehen bereits vorbei gewesen, wenn der sozialistische Bürger um zwanzig Uhr seinen Apparat angestellt hätte. Die Sommerzeit gab es zuerst bei uns, beharrt Konrad. Sie wetten um fünfzig Euro. Sylvie weiß, dass Konrad verlieren und sie die fünfzig Euro nicht von ihm annehmen wird. Er zieht sein Handy aus der Jackentasche und ruft einen Freund in Berlin an. Der will ins Internet gucken und ruft zurück. Ach, so, murmelt Konrad, das Handy ans Ohr gepresst. Ach so. Ach, so. Dazwischen Pausen, in

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