Spaghetti in flagranti
italienischen Familien auch – ein jeder zu allem seinen Senf dazugab. Egal ob es um einen neuen Gasherd für nonna ging, die Frage, ob ich für ein Jahr nach Deutschland ziehen durfte, die Schulwahl für die Zwillinge oder babbos geplanten Autokauf: Alle redeten mit und – das war das Furchtbarste daran – wollten unbedingt helfen. Damit machten sie meist alles nur noch schlimmer, aber das sah keiner außer mir so. Daher fand es auch keiner außer mir furchtbar.
Nachdem sich meine beiden liebenswerten Schwestern beinahe die Augen ausgekratzt hätten, um zu klären, wer von ihnen rechts neben Otto an der Tafel sitzen durfte – die linke Seite war tatsächlich mir vorbehalten, oh Wunder! –, konnte die große mangiata , das Essen, beginnen.
Zio Gaetano verwickelte Otto, der ihm gegenübersaß, sofort in ein Gespräch über deutsche Flirttechniken, während die Zwillinge ihn unaufhörlich anhimmelten. Ich konnte nur hoffen, dass er nicht alles von dem verstand, was mein zweiundsiebzigjähriger Onkel, der sich nach wie vor für den gewieftesten Frauenverführer der ganzen Adriaküste hielt, da so alles von sich gab.
Als ich meinte, das ganze Theater keine Sekunde länger aushalten zu können, flüchtete ich in die Küche, wo mamma in drei Töpfen gleichzeitig rührte und nonna die Vorspeisen auf großen Platten angerichtet hatte.
Sie drückte mir zwei der silbernen Tabletts in die Hand und sagte: »Hier, bring das schon mal raus.«
»Was fällt euch bloß ein«, schimpfte ich drauflos und rührte mich keinen Zentimeter von der Stelle. »Wie konntet ihr die nur alle einladen? Seid ihr denn wahnsinnig? Wir sind hier doch nicht im Zoo! Otto ist mein Gast, ihr dürft ihn nicht so vorführen.«
Nonna tätschelte mir wie einer Dreijährigen die Wange, was mich erst recht wütend machte. »Ach, Kindchen, beruhige dich. Früher oder später hätte er die Familie sowieso kennengelernt. Nun weiß er wenigstens, woran er ist.«
»Eben drum!«, rief ich. »Jetzt will er bestimmt nichts mehr mit mir zu tun haben. Dabei habe ich mich so gefreut, dass er kommt.«
»Du übertreibst«, meinte mamma und probierte ein letztes Mal von ihrer Soße. »Er wird uns schon mögen. Oder schämst du dich etwa für deine famiglia ?«
Gut möglich, hätte ich am liebsten geantwortet, aber ihre Stimme hatte einen bedrohlichen Unterton angenommen, daher trat ich lieber die Flucht nach vorne an und trug die Platten ins Wohnzimmer. Das überlebe ich nicht, dachte ich, niemals!
Am Ende überlebte ich es doch irgendwie. Zwar brachte ich kaum einen Bissen herunter, dafür schmeckte es Otto umso besser, was meiner nonna besonders gut gefiel. Als er erwähnte, dass er noch nie so gute Spaghetti gegessen habe, hatte er endgültig einen Stein bei ihr im Brett.
Die versammelte Verwandtschaft benahm sich wie immer: Alle palaverten laut durcheinander, die drei Gören sprangen durchs Wohnzimmer, und nach zwei Stunden und sechs Gängen sah es auf dem Tisch aus wie auf einem Schlachtfeld. Dafür waren alle satt und zufrieden, weil die Bäuche spannten und die Neugier auf den tedeschino gestillt war. Otto hatte sich prächtig geschlagen, ich musste kaum für ihn dolmetschen, und zu meiner grenzenlosen Erleichterung erweckte er nicht den Eindruck, als wäre er von irgendwem oder irgendetwas schockiert.
Beim anschließenden gemeinsamen Sonntagsspaziergang im Zentrum, wo sich ganz Riccione in der Viale Ceccarini nach dem Mittagessen die Beine vertrat, übernahm mamma es, meinen Besuch den restlichen 35 847 Einwohnern vorzustellen, die der Ort im Winter hatte. Otto und ich hatten nicht die geringste Chance gehabt, uns zu verdrücken, und auch jetzt war ihm nicht anzumerken, ob es ihn störte. Brav erduldete er es, dass sie ihn herumzeigte, machte höflich Konversation und ließ sich zwischendurch von meinen Schwestern die Ohren blutig quatschen. In diesem Moment bewunderte ich ihn für sein stoisches Gemüt.
Mir ging das Ganze gehörig gegen den Strich, denn alle paar Meter musste ich mir den Platz an seiner Seite neu erkämpfen, und allmählich verließen mich die Kräfte. Wie sollte dieser Mann jemals zwei private Worte mit mir wechseln, geschweige denn mich küssen, wenn Tag und Nacht meine komplette Familie um uns herumwuselte? Langsam fragte ich mich, ob mein Vater diesen Menschenauflauf gezielt inszeniert hatte, um Otto von mir fernzuhalten, aber das traute ich ihm dann doch nicht zu.
Ich war kurz davor, die Segel zu streichen und die
Weitere Kostenlose Bücher