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Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau

Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau

Titel: Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan Anderson , Susanne Aeckerle
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gefühlt«, sage ich, setze mich neben sie und beteilige mich an dem Vergnügen.
    »Außer dem See, an den wir jeden Sommer gingen, habe ich nur selten Wasser zu sehen bekommen. An dem See gab es eine kleine Bucht zwischen zwei Flüssen. Um dort hinzukommen, mußte man einen grasbewachsenen Hang runterrutschen, einen kleinen Bach durchwaten und durch Miss Mackers Wald laufen. Ich habe mich da so sicher gefühlt – so behaglich mit den Felsen zu beiden Seiten dieses winzigen Fleckchens. Es zog mich an wie ein Magnet mit seiner sanften Kraft, Zielgerichtetheit und Ungeduld. Wasser, das gegen Felsen schwappt, das über den Sand zischt – das war wie Herzschläge im Rhythmus der Zeit, die alle vorangegangen Mißtöne des Tages fern wirken ließen. Zauberei – der ganze Ort war Zauberei.«
    Sie erspäht ein Ruderboot, keine drei Meter entfernt. »Ich frag mich, ob die Besitzer die Ruder dagelassen haben«, meint sie, wechselt abrupt das Thema und stachelt mich an, es herauszufinden. |57| Ich schlendere rüber, halb in der Hoffnung, daß sie es nicht getan haben. Aber, sieh an, die Ruder sind ordentlich im Boot verstaut. »Haben wir Glück?« fragt sie.
    Ich nicke widerstrebend.
    »Es ist eine Weile her, seit ich zuletzt gerudert bin«, warne ich sie. »Mit einem Kajak kenne ich mich besser aus. Aber steig ein. Wir können es ja versuchen. Verirren können wir uns nicht, soviel ist sicher.« Joan ist vom Floß aufgestanden und ins Boot gestiegen, bevor ich den Satz beenden kann. Ich stecke die Ruder in die Dollen, schiebe das Boot kräftig an und springe hinein.
    »Gut gemacht, meine Liebe«, sagt sie, dreht sich dann um, als sei sie der Schlagmann, bereit, die Befehle für ein Rennen zu geben. Eine Schnapperschildkröte, die auf einem Steg in der Nähe gesessen hat, läßt sich ins Wasser fallen und folgt uns. In der Ferne sehe ich Flußbarsche springen. Die Ruder sind schwer, verglichen mit meinem Kajakpaddel, aber ich gewöhne mich daran und finde meinen Rhythmus – das hohle Quietschen, wenn sich die Ruder an den Dollen reiben, ist das einzige unnatürliche Geräusch rund um den See.
    »Die größte Freude ist, wenn etwas durch einen glücklichen Zufall geschieht«, sagt Joan, »wie eine unerwartete Brise oder dieses Boot zu finden. Ich fühle mich nur dann richtig lebendig, wenn ich Kontakt mit der Welt aufnehme, wie wir es jetzt tun. In meiner Jugend bin ich durch die Straßen von New York gelaufen und habe den Geruch der Viertel, all der Menschen aus anderen Gegenden, in mich aufgesogen, oder bin mit regennassem Haar und dem Wind im Gesicht über die großen Brücken gelaufen oder in Museen gegangen, wo ich so nahe an die Gemälde trat, daß ich das Öl riechen konnte. Weißt du, was ich meine, Liebes?« Sie läßt ihre Hand über den Bootsrand baumeln und das Wasser durch ihre Finger laufen. »Man bringt uns früh bei, damit aufzuhören, die Welt zu spüren. Eltern sagen ständig Nein zu ihren Kleinkindern, wo das Kind doch nur |58| die Welt um sich herum spüren will. Das ist schade. Gib deinen Sinnen eine Überdosis, ist meine Devise, und das ein ganzes Leben lang.«
    Ich habe keine Antwort. Wie so oft bin ich zu sehr damit beschäftigt, den Augenblick für andere zu gestalten, um auf meine Sinne zu achten. Ich denke selten über das Erlebnis nach und was ich dabei fühle, bis es vorbei ist.
    Wir kommen bis zur Mitte des Sees, schieben dabei Tausende kleiner Wasserkäfer weg, die an der Oberfläche schwimmen, dann halte ich inne, und wir lassen uns treiben. Ich lehne mich mit den Ellbogen auf die Bank hinter mir und strecke mich, schaue hinauf in den wolkenlosen Himmel, lasse mein Gesicht von der Sonne wärmen. Ich denke darüber nach, daß mich das erdrückende Gewicht der Gewohnheit am Ufer festgehalten hätte, wenn Joan nicht gewesen wäre. Ihre Ungezwungenheit hat mir geholfen, die gewohnten Gleise zu verlassen. Ich blicke über den Bootsrand. Wir scheinen in einer Spiegelung zu hängen. Ich habe den See noch nie so erlebt wie jetzt. Und dann schleicht sich ein verstörender Gedanke in mein Entzücken. Wie wird mein Leben verlaufen, wenn mein Mann zurückkommt? Der Gedanke allein macht mich ängstlich und meinen Körper steif. Die Monate mit Joan als meiner Muse waren so idyllisch. Mein Tag verfinstert sich plötzlich durch die Gedanken an die ungewisse Zukunft. Ich setze mich auf und erschrecke Joan damit. »Du weißt, daß wir so was nicht mehr machen können, wenn mein Mann

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