Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
Grundstruktur zu schaffen. Ich folge ihrem Beispiel und arbeite fleißig, mit voller Konzentration, obwohl meine Finger längst nicht so flink sind wie ihre. Ich bin erst bei meinem vierten Kettfaden, als ich bemerke, |67| daß sie mir weit voraus ist. Ich fluche im Stillen vor Verärgerung.
Sie scheint meine Frustration zu spüren. »Laß dir Zeit«, rät sie mir. »Es gibt keine Abkürzungen bei der Herstellung eines Wandteppichs oder im Leben, was das betrifft... keine Beschleunigung des Vorgangs. Außerdem wird dir die schiere Monotonie Zeit zum Sinnieren geben. Es gibt ein Sprichwort, das besagt, daß jene, die mit den Händen arbeiten, Arbeiter sind; jene, die mit Händen und Kopf arbeiten, sind Handwerker und jene, die mit Händen, Kopf und Herz arbeiten, sind Künstler. Das hat mir ein Holzschnitzer gesagt. Ist das nicht ein schöner Gedanke? Ich denke, heute zielen wir darauf ab, Künstler zu sein.«
Ich fühle mich plötzlich demütig und zwinge mich dazu, langsamer zu machen. Schließlich sinken meine Schultern herab, und ich entwickle einen Rhythmus im Tempo der klassischen Musik aus dem Radio. Wann habe ich zum letzten Mal etwas Solides und Originelles mit den Händen gemacht? Als Kind habe ich Stunden damit verbracht, Topflappen auf einem kleinen Metallwebrahmen herzustellen. Was wohl aus denen geworden ist?
Joan glättet die losen Enden, die überall aus dem Boden ihres Webrahmens raushängen. »Extras«, murmelt sie, berührt die Fransen liebevoll. »Wir kommen alle mit Extras zur Welt... sie werden im Uterus entwickelt. Sie haben nichts damit zu tun, wie man lebt. Man hat sie bei der Geburt, und es bleibt einem nichts anderes übrig, als damit klarzukommen.«
»Du meinst Gene?« frage ich.
»So was in der Art«, antwortet sie. »Eigentlich sind es die angeborenen Qualitäten, mit denen jeder von uns zur Welt kommt... einige Menschen sind eher fröhlich, andere sind zum Beispiel melancholisch. Niemand wird ohne Einstellungen und Vorlieben der einen oder anderen Art geboren. Wir werden gezwungen, sie in unsere Seinsart zu integrieren. Man |68| kann der Tatsache nicht ausweichen, daß man mit all diesem Zeug zur Welt gekommen ist, und all diese Extras verlangen Aufmerksamkeit. Außerdem wäre es dumm, sie einfach zu mißachten«, beharrt sie, und ihr Enthusiasmus treibt mich voran.
»Na ja, es freut mich zu erfahren, daß ich wenigstens etwas von Anfang an hatte«, witzele ich.
»Hör zu, Liebes. Ein Leben ist so ausgeglichen wie eine gute Webarbeit, gleichmäßig. Kampf, Zug und Schub sind alles.«
»Dieser Gedanke erfordert einige Überlegung«, sage ich und schlage vor, daß wir Mittagspause machen. Eine Stunde oder zwei später, nach einem Thunfischsandwich und mehreren Gläsern Eistee, bin ich endlich mit meinen verdammten Kettfäden fertig und bereit, meinem Webrahmen ein wenig Farbe hinzuzufügen. »Wir fangen mit dem hellblauen Garn an«, sagt sie und reicht mir eine Handvoll gleichlang geschnittenes Garn.
»Warum hellblau?« frage ich, während ich die Nadel einfädele.
»Es kommt mir wie die richtige Farbe für das Säuglingsalter vor – wässrig, blaß und ohne viel Durchsetzungskraft. Achte darauf, jede Reihe strammzuziehen, sobald du das Garn verknotet hast. Energie entsteht durch Spannung. Wenn du einen Stich ausläßt oder über zwei Fäden machst«, setzt sie ihre Anweisung fort, »wirst du merken, daß sich das ganze Muster verändert. Interessante Metapher für das Leben, nicht wahr?«
Ich habe in meinem Leben sicherlich mehr als genug Stiche ausgelassen, denke ich – wenn ich einfach nicht mehr durchhalten konnte, anderen gestattet habe, die Kontrolle zu übernehmen. Und das hat bestimmt nicht nur mein Aussehen verändert, sondern auch die Art, wie ich die Dinge betrachte. Ihr Wahnsinn hat Methode. Ich beschließe, ihr aufmerksamer zuzuhören.
»Wir machen nur ein paar hellblaue Reihen«, sagt sie, »und |69| hören dann für heute auf. Wahrscheinlich sollten wir ein Stadium pro Tag weben – auf diese Weise werden wir uns tief in jede Periode unseres Lebens eingraben.«
Ich kann schon wieder nicht folgen, aber ich bin genügend fasziniert, um bei der Sache zu bleiben. »Die Stärke, die wir im Säuglingsalter bekommen, ist Hoffnung. Während des ganzen Lebens bleibt Hoffnung die grundlegende Stärke – der Rettungsanker für Wachstum und Entwicklung. Wenn ein Baby im Arm gehalten, gewickelt, gestillt wird und man ihm vorsingt, wird das Kind Vertrauen und Hoffnung
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