Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
hier kommt die Lehrerin.« Ihre Arme sind mit Körben und Taschen beladen, und über ihrer Schulter hängt ein großer Stoffballen. »Ich habe seit Jahren nicht mehr gewebt«, plaudert sie los, kaum daß sie eingetreten ist, wobei sie koboldhaft verführerisch schaut. »Ich kann’s kaum erwarten, dich auf den Weg zu bringen.«
Ohne weiter Zeit zu verlieren, beginnt sie auszupacken – Stränge und Docken in allen erdenklichen Farben, Stopfnadeln und Pappkarton. »Ich habe sogar darüber geschrieben«, sagt sie und legt ein Buch auf den Küchentisch. »Wenn du, nachdem wir mit dem Weben angefangen haben, nicht mehr weißt, was das eigentlich soll, kannst du als letzten Ausweg meine Theorie darüber nachlesen.«
Ich greife nach dem Buch im gelben Schutzumschlag mit dem Titel
Wisdom and the Senses
und blättere es durch. »Aber jetzt lassen wir erst mal den Kopf außen vor, nicht wahr, meine |65| Liebe?« Ich schaue zu, wie sie acht leuchtend bunte Garnknäuel aufreiht und erklärt, daß jede Farbe eine der acht grundlegenden Stärken darstellt – einige, die ich bereits habe, und andere, die ich während der Arbeit bekommen werde. »Dinge wie Entschlossenheit, Kompetenz, Willen, Treue«, teilt sie mir sachlich mit. »Du wirst bald erkennen, wie toll du bist«, sagt sie und greift nach einem großen Stück Pappkarton.
»Wirklich?« frage ich, nicht gänzlich überzeugt.
»Hier«, fährt sie fort, »wie müssen den Karton in zwei große Quadrate schneiden.« Sie reicht mir eine Schere, damit ich dasselbe machen kann. »Was wir vorhaben, hat nichts mit dem Intellekt zu tun, sondern mit Berührung. Ich möchte, daß du aufhörst, dich zu fragen, wer du bist, und tatsächlich beginnst, das Wesentliche an dir zu spüren und zu berühren. Darum geht es beim Weben. Während du mit den Fäden arbeitest, gewinnst du eine völlig neue Perspektive.«
Allmählich begreife ich ein wenig von dem Sinn hinter Joans eigenartigen Metaphern, da ich schon davon gehört habe, daß traditionelle Kulturen darauf bestehen, ihren Kindern das »Wie« solcher Fertigkeiten wie Papierarbeiten oder Töpferei beizubringen, damit sie den Prozeß des Lebens verstehen, vom Ursprung bis zur Vollendung. Trotzdem kommen Fragen.
»Wofür ist der Karton?« frage ich.
»Für unsere Webrahmen. Wir machen das alles selbst«, antwortet sie.
»Aber ich dachte, wir arbeiten an einem richtigen Webstuhl«, gestehe ich, nicht fähig, meine Enttäuschung über diese behelfsmäßige Vorrichtung zu verbergen, die mir das Gefühl gibt, wieder im Kindergarten zu sein.
Als erfasste sie intuitiv meine Verwirrung und Ungeduld, läuft Joan zum Küchentisch und breitet den Stoffballen aus, den sie auf der Schulter hereingeschleppt hat.
»Wie prachtvoll«, rufe ich, fast geblendet.
»Tja, das sollte er auch sein«, sagt sie, »denn das ist mein |66| Leben, das uns ins Gesicht schaut. Siehst du, wie die Streifen miteinander verbunden sind? Jeder stellt ein anderes Stadium dar. Und wie sich herausstellt, bin ich dieses gut miteinander verwobene menschliche Wesen aus Tausenden ineinandergreifender Fäden. Erstaunlich, nicht wahr? Die Fäden stehen für verschiedene Ereignisse und Erfahrungen. Und darüber hinaus habe ich festgestellt, daß jeder einzelne Augenblick dem, was ich bin und was ich werde, Farbe verliehen hat. Ist das nicht komisch? Aber genug geredet!« unterbricht sie sich selbst und sucht einen bequemeren Stuhl. »Machen wir weiter.«
Ich folge ihrem Beispiel und steche Löcher in alle vier Seiten meines Kartons, während sie gleich lange Stränge grauen Garns abmißt. »Als erstes müssen wir die Kettfäden spannen«, erklärt sie.
»Die was?«
»Damit schaffen wir das Gerüst für den Wandteppich, das beständige, stützende Element... nicht anders als unser Skelett, das den Körper aufrecht hält. Die Kettfäden halten den Wandteppich zusammen«, sagt sie, ganz von sich eingenommen. »Wir beginnen damit, die grauen Stränge zu verknoten, von oben nach unten, und achten darauf, daß jeder Strang glatt und gleichmäßig gespannt ist.«
»Warum benutzen wir Grau?«
»Grau stellt die negativen Zugkräfte und widersprüchlichen Elemente dar – die Hürden, die uns im Weg stehen und die wir beseitigen müssen. Da Grau eine leblose, etwas trübe Farbe ist, erinnert sie mich daran, über das Trübe hinauszugreifen auf die farbigeren Aspekte des Lebens.«
»Das tust du mit Sicherheit«, scherze ich, aber sie reagiert kaum, ist damit beschäftigt, ihre
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