Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
geschehen ist.
|96| »Oh, du bist das«, sagt sie mit Erleichterung in der Stimme. »Was für ein Zufall! Ich habe gerade versucht, deine Telefonnummer zu finden. Setz dich, Liebes«, sie deutet auf einen Stuhl in ihrer Nähe. »Erik stirbt.«
»Was?« keuche ich, setze mich neben sie und blicke mich im Zimmer nach Hinweisen darauf um, was hier geschieht. Ich hatte es merkwürdig gefunden, auf dem Parkplatz ihrem Geistlichen zu begegnen, der mich freundlich grüßte. »Ich muß noch zu einer anderen Familie«, hatte er gesagt. »Sie sind ihr bestimmt ein großer Trost.« Erst jetzt begreife ich die volle Bedeutung seiner Bemerkung.
Ich bin verwirrt, fühle mich einen Augenblick lang wie verloren und finde keine tröstenden Worte, daher nehme ich einfach ihre Hand in meine. Ihre gelassene Haltung zwingt mich dazu, mich zusammenzunehmen. »Was ist passiert?« frage ich. »Du hast bei unserem letzten Gespräch nichts davon erwähnt, daß er krank ist. Hatte er einen Schlaganfall?«
»Eine Infektion«, antwortet sie, zuckt die Schultern, als hätte sie keine Ahnung, wo er sich angesteckt haben könnte.
»Kann man nichts dagegen tun?«
Ihre Augen blitzen auf, schwimmen plötzlich in Tränen. »Er war schon einmal sehr krank, und ich habe ihn zurückgeholt. Diesmal wird es keine heroischen Anstrengungen mehr geben«, sagt sie mit schlichter Zuversicht, im Frieden, wie es scheint, mit seiner Sterblichkeit. Es ist zuviel – Liebe und Trauer am selben Ort. Ich bin überwältigt. Da ich noch nie an einem Sterbebett war, beeindruckt mich, wie Trauer isoliert. Das ist ein Gefühl, das nicht mit anderen geteilt werden kann; sie muß sich dem allein stellen und damit auseinandersetzen. Ich kann ihr nur Trost bieten, wenn ich das Gefühl habe, daß ihre Erschöpfung überhandnimmt. Mehr noch, es gibt kein Vorbild für so eine Szene, keine Zeit für eine Probe. Nicht jeder kann so auf den Moment eingehen, wie sie es, zum Glück, so gut tut.
|97| »Erinnerungen sind wie Perlen«, sagt sie, füllt die Leere mit einem Gedanken, den ich fassen kann, während sie an ihrer Halskette spielt. »Sie bilden ein ganzes Leben«, fährt sie fort. »Man kann sie tragen und berühren und sich an alles erinnern, was man hat und wovon man ein Teil war.«
»Ja«, stimme ich halbherzig zu, nicht sicher, worauf sie hinauswill.
»Mit Erik war es eine ganz schöne Reise. So viele wunderbare Zeiten, vermischt mit einigen schlimmen Momenten«, setzt sie ihre Gedanken fort, mit Schmerz im Blick, während ich mich an einige ihrer traurigen Geschichten zu erinnern versuche. »Die besten Augenblicke waren die unkompliziertesten... mit ihm auf die Hügel um Wien zu steigen, am Anfang unserer Beziehung, ich in einem riesigen blauen Cape, er zitternd in seinem Pullover. Es ging gar nicht anders, als uns beide in mein Cape einzuwickeln.« Ihre Augen sind jetzt feurig, Farbe kommt in ihre Wangen zurück, als schiene sie den Augenblick auszukosten. »Jeder Anstand flog über Bord.« Sie lacht über sich selbst. »Wir haben uns dem Moment hingegeben, damals und für alle Zeiten.«
Die Art und Weise, wie sie hinnimmt, was sie vorgesetzt bekommt, wird sich nie ändern, denke ich. Es ist so typisch für Joan, dieses Ereignis mit so viel Liebe und positiver Energie zu erfüllen wie alle anderen in ihrem Leben. Und wie schade für jene von uns, die sich von solchen Momenten abwenden, weil es nicht das ist, was wir geplant hatten oder wir einfach nicht damit umgehen können. Aber nicht Joanie! Dieser Augenblick ist für sie genauso wichtig wie alle anderen, die sie mit Erik geteilt hat. Sie wußte, sie mußte, ja wollte bis zum Ende absolut präsent sein. Mein Blick wandert über ihre Schulter zu der Kommode mit den gerahmten Fotos von glücklicheren Zeiten und Ereignissen und darüber hinaus zum Regal, auf dem sie sorgfältig einige Bände von Erik aufgereiht hat.
|98| »Ich habe das Gefühl, wir sollten Kerzen anzünden«, flüstert Joan unsicher.
»Soll ich welche holen?« frage ich, begierig darauf, etwas zu tun zu haben.
»Nein, Liebes, ist schon gut. Das würde bedeuten, du müßtest mich allein lassen. Wir kommen auch ohne Kerzen aus.«
Ich nicke und wende mich von ihr ab, schaue aus dem vorhanglosen Fenster und höre den Stoßverkehr – hupende Autos, quietschende Bremsen, Menschen in ihrem Alltagsleben, auf dem Weg zur Arbeit und dann zurück nach Hause, die draußen vorbeikommen, ohne die geringste Ahnung zu haben, welches gewaltige Ereignis hier
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