Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
respektieren. Das ist keine einfache Arbeit. Die große Falle, in die die meisten von uns tappen, ist der Glaube, daß Liebe und Freude immer zusammengehen. Das kann nicht sein, weil Wahrheit mit der Liebe einhergeht, und oft ist die Wahrheit wegen ihrer Aufrichtigkeit nicht gerade ein Spiel.«
Meine Nadel geht jetzt rauf und runter, rauf und runter, in einer Geschwindigkeit wie nie zuvor, und das rote Garn wird zu einem breiteren Streifen in meiner Weberei, als ich eigentlich vorgehabt hatte. Ich bin fasziniert von Joans Gedanken über erwachsene Liebe, aber auch bestrebt, ein weiteres Stadium zu erreichen, das ich mehr unter Kontrolle habe.
»Warum die Eile?« fragt sie, bemerkt meine Hast. »Beschleunige den Prozeß nicht, vor allem, wenn du deine Gefühle dazu noch nicht entwirrt hast. Und frage dich, während du webst, wo die Stärke eurer Verbindung liegt. Du hast dein Päckchen mitgebracht, genauso wie er seines mitgebracht hat. Was sollte in eurem Zusammensein gefördert werden?«
»Wie ist es mit Leidenschaft?« frage ich, merke, daß wir diesem Thema bisher ausgewichen sind. »Kommt die jemals wieder?« Ich lehne mich zurück und nehme einen Schluck von dem lauwarmen Tee, während ich auf ihre Antwort warte.
»Oh, die kann nicht auf Knopfdruck hergestellt werden«, meint sie schließlich. »Leidenschaft ist eine Kraft, eine Richtung, in die man sich bewegt. Sie kommt, wenn man offen und |94| damit schutzlos ist. Haben wir sie nicht bei Robins Party wahrgenommen – du und er, er und ich –, spürbare Energie zwischen uns allen? Und das ist passiert, weil wir offen dafür waren. Doch Leidenschaft bleibt nur ein hochtrabendes Wort, wenn man verschlossen und nicht offen ist. All die zu den einzelnen Stadien gehörenden Worte sind so grandios. Nur wenn wir sie in Verben umwandeln und sie mit Handlungen verbinden, ergeben sie einen Sinn. Denk immer daran, Liebes, daß Theorie ohne Handeln überhaupt keine Stärke hat.«
»Natürlich«, murmele ich, greife wieder nach meinem Webrahmen. Während ich das rote Garn durch das graue Feld fädele, fühle ich mich demütig, spüre die Emotion des Prozesses wie auch Joans Liebe zu mir.
»Man bekommt Liebe, indem man teilhat«, sagt sie, spürt, daß ich dieses Stadium endlich begreife. »Das gilt für die anderen Stärken genau so.«
Und so fand ich während der kalten Wintermonate Wärme in ihren fortgesetzten Botschaften und Bestätigungen, während ich das Heranwachsen meiner sich dauernd verändernden Webarbeit beobachtete, die immer noch unvollendet ist, weil auch ich unvollendet bin. »Laß Platz für den Rest deines Lebens«, warnt mich Joan. »Du hast noch vieles vor dir. Generativität, die Stärke von Stadium sieben, setzt sich bis zu deinem Tod fort.«
Es gibt keine verlorene Zukunft. Das Leben, das ich hätte leben können, schlägt allmählich Wurzeln. Ganz langsam gehe ich von Resignation zu einem Gefühl meiner Möglichkeiten über.
|95| Das Beste daraus machen
Ein seltsamer Frühlingsnachmittag – schwere Luft, verhangener Himmel, ein Wetter, das nicht belebt. Den ganzen Tag über habe ich bei Joan angerufen und Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen. »Was beschäftigt Sie?« fragt ihre aufgezeichnete Stimme den Anrufer. Für gewöhnlich sage ich etwas Banales, und sie ruft mich immer sofort zurück. Aber heute nicht. Ich versuche es ein letztes Mal und finde ihre Ansage mehr als frustrierend. »Du beschäftigst mich. Wo bist du?« brülle ich, knalle den Hörer auf, und plötzlich wird mir klar, daß irgendwas Schlimmes passiert sein muß. Ich schnappe mir die Autoschlüssel und fahre los, mache gar nicht erst Halt bei ihrem Haus. Es gibt nur zwei Orte, an denen sie sein kann: am Strand oder im Pflegeheim. Mein Instinkt sagt mir, daß es letzteres sein muß.
Sobald ich drinnen bin, gehe ich am Empfang vorbei den Flur entlang, der dunkler als gewöhnlich zu sein scheint. Ich komme mir vor wie im Leichenschauhaus – keine Patienten weit und breit, keine Rollstühle oder Schwestern mit Medikamentenwagen, nicht mal die übliche Hintergrundmusik. Ein paar Schritte später stehe ich vor der letzten Tür im Flur, einem Eckzimmer, das Joan gefordert hat, weil es Abgeschiedenheit gewährleistet und die beiden von der Heimatmosphäre abschirmt. Vorsichtig klopfe ich an.
»Herein«, antwortet ihre Stimme leise.
Ich drücke die Tür auf und sehe Joan mit dem Telefonbuch in der Hand dasitzen; ihr Blick sagt mir, daß etwas Ernstes
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