Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
erzählst?«
Und während die dunkle Nacht in das Morgengrauen übergeht, reflektiert sie ein erfülltes Leben, spricht von all den Orten und Ereignissen, die ihre Verbindung so lebenssprühend gemacht haben – ihr Kennenlernen in Wien, die Flucht nach Dänemark, dann weiter in die Vereinigten Staaten und schließlich Cambridge und die Berufung nach Harvard. Sie beschreibt seine Arbeit mit den Indianern und dann seine Studien über Gandhi, Martin Luther und andere. Zu sagen, daß er oder sie beide »das Beste aus ihrem Zusammentreffen gemacht hatten«, wäre eine Untertreibung.
Unsere Träumerei wird durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. »Es wird Zeit, Mrs Erikson«, teilt die Nachtschwester ihr mit. Als sie Erik zum Abtransport vorbereiten, verlassen wir den Raum, Minuten später wird er hinausgebracht, und wir folgen dicht auf. »Jemand sollte ein Hornsignal blasen, findest du nicht?« fragt sie.
Ich schlucke schwer. Oh, was würde ich nicht für einen Zauberstab geben. Mit leeren Händen winken wir dem Leichenwagen nach.
»Hör mal Joanie, wir können weitermachen. Würdest du gerne mit Erik in das Beerdigungsinstitut fahren?«
Sie nickt. Rasch gehen wir zu meinem Auto. Ihr Bedürfnis nach einem zeremoniellen Ende ist offensichtlich. »Wie kann ein Leben über so lange Zeit bedeutungsvoll sein und dann auf einen Schlag, puff, mit so wenig Fanfaren enden?« fragt sie mit plötzlicher Schwermut.
|104| »Vielleicht, weil du immer in der Gegenwart geblieben bist, dich nie mit diesem Tag beschäftigt hast. Das Leben war stets wichtiger für dich und für Erik, wage ich zu behaupten, als das Sterben. Es war ein perfekter Abend. Du hast es genau so gemacht, wie du wolltest, nicht wahr?«
»Ja, Liebes, das habe ich«, seufzt sie.
Es ist fast zu viel, um es zu begreifen, und doch werde ich ihr immer versichern können, das sie das Beste daraus gemacht hat.
|105| Freude ist eine Pflicht
Es ist Herbst, und ich habe Joan seit Eriks Tod und der darauf folgenden Begräbnisfeier fast aus den Augen verloren. Sie schwankte zwischen zwei Rollen hin und her – der einer würdevollen Frau, deren Haus von zahllosen Besuchern überschwemmt wird, die ihr ihr Beileid aussprechen wollen, und der einer Einsiedlerin. Die öffentliche Joan, die trauert, hat keine Zeit für lange, intime Gespräche; die private, kummervolle Joan verharrt in ihrer emotionalen Ödnis, durchlebt ihre speziellen und privaten Erinnerungen allein.
Obwohl ich ihr Bedürfnis respektiere, auf ihre eigene Weise zu trauern, spüre ich, daß sie ein bißchen Abwechslung bräuchte, um ihren Schmerz zu überwinden. Sie war es, die mir sagte, daß sie sich nicht so leicht aus der Bahn werfen lassen würde. »Wenn das droht«, hatte sie mal zugegeben, »versuche ich mich zu konzentrieren, und zwar auf meine Stärke, nicht auf das Problem. Ein Weg aus der Niedergeschlagenheit besteht darin, etwas zu tun... aktiv zu werden, statt passiv dazusitzen.«
Und dann hinterließ sie eines Tages eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter, ihre normalerweise melodische Stimme klang verzweifelt: »Ich fühle mich plötzlich von allem abgeschnitten. Bitte, Liebes, ruf mich an und laß mich am Leben teilnehmen.« Ich rannte aus dem Haus und machte mich auf den Weg zum Strand. Da es ein nebliger Tag war – ihr Lieblingswetter für den Strand –, vermutete ich, sie dort zu finden. Und tatsächlich entdecke ich ihr schwarzes Cape, das sich im Wind bauscht, während sie am Ufer entlanggeht.
|106| »Joanie«, rufe ich, winke wie wild in der Hoffnung, daß sie mich bemerkt. »Kann ich mitgehen?«
Sie dreht sich langsam um, hebt dann ihren Spazierstock. Ich laufe zu ihr, schließe ihren gebrechlichen Körper in meine Arme. »Wie geht es dir?« flüstere ich. »Wir haben uns lange nicht gesehen.«
»Ganz gut, bis du mich in diesem mitfühlenden Ton gefragt hast. Ich komme irgendwie zurecht, aber ich bin voller Schmerz«, antwortet sie, und ihre Augen füllen sich mit Tränen.
Ich lasse sie los und betrachte ihren abwesenden Blick, während sie sich eine Träne mit einem bereits feuchten Taschentuch abwischt.
»Ist schon gut, Joanie«, sage ich. »Du hast mir so oft gesagt, daß man das ganze Ausmaß von Emotionen nur empfinden kann, wenn man sich darauf einläßt. Also, warum hältst du sie zurück? Dein Leben ist von einem gewaltigen Ereignis erschüttert worden. Du mußt in das Gefühl davon eintauchen.«
»Aber das habe ich in letzter Zeit zu viel getan. Ich kann
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