Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
drinnen stattfindet. Ich schüttle den Kopf, als mir klar wird, daß sterben ein sehr persönlicher Akt ist, sicherlich bedeutsam, aber nur für die wenigen daran Beteiligten.
In dem Moment schiebt eine kraushaarige Schwester die Tür mit der Hüfte auf und kommt mit zwei Tabletts herein. »Sie müssen hungrig sein«, sagt sie und stellt die Tabletts auf unsere Armlehnen. »Ich habe Ihnen etwas zu essen gebracht. Lachs und Erbsen. Sieht gut aus«, damit will sie uns ermutigen zuzulangen – was mir hier, neben dem Bett eines sterbenden Mannes, seltsam vorkommt.
»Sieht köstlich aus, Liebes«, sagt Joan und schaufelt sich eine Gabel voll Kartoffelbrei in den Mund. »Du bleibst doch zum Essen, nicht wahr?«
»Natürlich. Wann hast du zum letzten Mal gegessen?« frage ich sie.
»Heute morgen, nehme ich an. Ich bin am Verhungern. Die Köchin hier ist ausgezeichnet«, fährt sie fort, probiert von dem Lachs in Sauce Hollandaise.
»Die Scones, die ich zum Weben mitgebracht habe, waren auch von hier«, fügt sie hinzu, und ich merke, daß sie sich für eine Weile normal unterhalten will. »Die haben mir immer etwas zu essen mitgegeben, seit Erik hier ist. Eine sehr freundliche |99| Geste, findest du nicht auch? Das einzige, was sie hier nicht haben, ist Port«, sagt sie und sieht mich an, als hoffte sie, ich hätte irgendwo eine Flasche versteckt.
»Ich könnte dir sicherlich den Gefallen tun und eine Flasche kaufen gehen, aber ich wette, die haben hier welchen in der Küche.«
»Glaubst du?« fragt sie, begierig wie ein Kind.
»Natürlich nur für medizinische Zwecke.« Ich zwinkere ihr zu. In diesem Moment steckt die Nachtschwester den Kopf durch die Tür. »Wollte nur mal nachsehen«, sagt sie. »Alles in Ordnung?«
Was für eine gefühllose Frage, denke ich. Wie könnte unter diesen Umständen alles in Ordnung sein? »Es würde besser gehen, wenn wir ein wenig Wein hätten«, erwidere ich.
»Oh, das ist überhaupt kein Problem«, meint sie. »Zwei Gläser?«
Joan und ich nicken, wenden uns einander zu und lachen über diesen glücklichen Zufall. »Es ist gut, dich hier zu haben, Liebes«, sagt sie mit warmer Stimme. »Das ist das erste Mal für mich. Ich bin überrascht, daß ich mich in all der Zeit nie mit so etwas auseinandersetzen mußte.«
»Dann sind wir schon zwei«, erwidere ich. »Es ist eine Ehre, wirklich. Ich bin froh, daß ich hergekommen bin.«
Nachdem das Essen beendet und der Wein getrunken ist, kommt es mir beinahe so vor, als sollten wir die Rechnung bezahlen und gehen. Aber ach, wir hatten nur eine kurze Atempause und müssen uns dem Tod und unserer Aufgabe wieder zuwenden. Joan geht zum Waschbecken, befeuchtet einen Waschlappen und legt ihn auf die fiebrige Stirn ihres Mannes. »Ganz ruhig«, sagt sie, glättet sein weißes Haar und flüstert ihm etwas ins Ohr.
Ich fühle mich unbehaglich, als sollte ich mich von dieser intimen Szene entfernen. Aber jedes Mal, wenn ich aus der Tür gehe – einmal zur Toilette und dann, um meinen Mann anzurufen –, |100| bittet sie mich zurückzukommen. Ich mache es mir auf meinem Sessel bequem und lehne den Kopf zurück, spüre, daß es eine lange Nacht werden wird. Warum kommt mir das alles so vertraut vor? frage ich mich. Ah ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Es erinnert mich an die Geburten. Die Wehen hatten angefangen, die Schmerzen wurden stärker, aber dann kam das Warten – eines der wenigen Male, wo ich mich ausliefern und alle Kontrolle abgeben mußte. Interessant, Geburt und Tod in derselben Kategorie zu finden.
»Würden Sie gern über Nacht hierbleiben, Mrs Erikson?« fragt eine andere Schwester, die hereingekommen ist, um unsere Tabletts abzuholen.
»Auf jeden Fall«, antwortet Joan mit Entschlossenheit. »Bei mir zu Hause passiert jetzt nicht viel.«
»Sollen wir Ihnen ein Bett machen?«
»Das wird nicht nötig sein«, erwidert sie mit Nachdruck, aber höflich. »Ich möchte genau
hier
sein. Allerdings brauche ich ein paar Sachen aus dem Haus. Liebes«, sie wendet sich an mich, »meinst du, wir könnten rasch rüberfahren?«
Erleichtert, auch nur für kurze Zeit von der enormen Spannung erlöst zu werden, die sich in mir aufgebaut hat, ergreife ich sofort die Gelegenheit, in die Nacht hinaus und an die frische Luft zu kommen. Als wir zum Auto stolpern, der Weg ist kaum erhellt von der Verandalampe, und losfahren, fällt sanfter Nebel. Ich stelle die Scheibenwischer an, und das leise Wischen radiert unsere schweren Gedanken
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