Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
doch nicht ewig weinen, oder? Wie erbärmlich wäre das?«
Ich strecke die Arme nach ihr aus, und sie läßt sich hineinfallen und weint hemmungslos.
»Wein ruhig«, sage ich und streichle ihre zuckenden Schultern. »Manche Dinge muß man weinend durchstehen, wenn man je wieder mit ihnen leben will, ohne zu weinen.«
»Was war das?« fragt sie, richtet sich plötzlich auf.
»Ein Zitat von Howard Thurman. Das ergibt einen Sinn, oder?«
»Allerdings«, stimmt sie zu, schluckt ihre Tränen und schaut jetzt hinaus auf das grenzenlose Meer. Wir bleiben schweigend stehen, bis sie nach meiner Hand greift und wir uns durch den feuchten, weichen Sand kämpfen, auf die schreienden Möwen und das ferne Nebelhorn lauschen.
»Ganz schön viel Nebel«, bemerke ich. »Vielleicht schmilzt er deinen Schmerz weg.«
|107| »Bringt einen dazu, sich auf seine Sinne zu verlassen, soviel ist sicher. Ich sage mir immer wieder, daß ich entweder so stark wie das Meer sein kann oder so schwach wie die zerbrochenen Muschelschalen unter unseren Füßen. Natürlich weiß ich, was ich vorziehen würde.« Sie bückt sich, um eine Handvoll orangefarbener und gelber Muscheln aufzuheben, die in ihrer Hand glitzern, und steckt sie dann in ihre Rocktasche. »Ich glaube, ich bin dazu bestimmt, aus Eriks und meiner Liebe heraus eine neue Dimension zu schaffen.«
»Was meinst du damit?« frage ich sanft.
»Vielleicht bin ich dazu bestimmt, die Stadien zu beenden«, antwortet sie abstrakt.
»Ich dachte, die wären längst beendet«, sage ich verwirrt.
»Das achte Stadium könnte eine Überarbeitung gebrauchen. Erik und ich haben über das Alter geschrieben, lange bevor wir es erreicht haben«, meint sie mit leisem Lachen. »Und jetzt merke ich, daß es nach dem achten noch ein oder zwei Stadien mehr gibt. Ich habe über die Ausdehnung des Lebenszyklus nachgedacht, vor allem, seit ich selbst in den letzten Stadien bin und mir bewußter denn je ist, was sie bedeuten«, sagt sie, mit einer gewissen Munterkeit in ihrer Stimme und Haltung, wie ich sie seit einiger Zeit nicht mehr erlebt habe. »Ich muß die letzten Stadien anderen verständlich machen. Und es wäre eine Möglichkeit, Eriks Arbeit und unser gemeinsames Leben zu ehren.«
Ich höre, wie sich die Räder drehen, während sie die Idee erwägt. Wichtiger noch, ich erkenne neue Stärke in ihrem Schritt, als hätte ihre Vorstellungskraft ihr gesamtes Sein neu belebt. Gerade, als ich sie bitten will, mir ihr Vorhaben näher zu erläutern, richtet sie ihren Blick auf mich.
»Was bringt dich heute überhaupt hier raus?« fragt sie verwundert. »Ich meine, im Gegensatz zu mir magst du den Nebel doch nicht so sehr.«
»Ich bin mit einer Einladung gekommen.«
|108| »Für mich? Klingt spannend.«
»Freut mich, daß du das findest, weil heute abend einige Freundinnen von mir aus New York kommen. Ich möchte ihnen hier ein paar schöne Tage machen. Jede von ihnen hat eine schwierige Zeit hinter sich, und sie brauchen die Möglichkeit, frischen Wind durch ihr Leben wehen zu lassen. Du wärst so eine Wohltat für sie. Ich habe ihnen von dir erzählt, und sie hoffen, daß du bei einigem, was wir vorhaben, mitmachst.«
»Und das wäre?«
»Zum Beispiel ein Ausflug zu den Seehunden. Ich wollte dich seit Monaten zum South Beach mitnehmen, und das scheint mir die perfekte Gelegenheit dazu. Was hältst du davon?«
»Du hast genau den richtigen Zeitpunkt erwischt, meine Liebe«, antwortet sie und ihre Augen wirken plötzlich lebendig. »In ein Boot zu steigen und irgendwas Wildes zu unternehmen, sollte mich aufrütteln, meinst du nicht?«
»Du machst also mit?«
»Worauf du dich verlassen kannst«, erwidert sie fast begierig. Ich bin erleichtert, zum einen, weil ich das Gefühl habe, es war richtig, sie darauf anzusprechen, und zum anderen, weil meinen Freundinnen die Anwesenheit einer so weisen alten Frau nur gut tun kann. »Ich muß noch eine Menge für heute abend erledigen. Kann ich dich bei dir zu Hause absetzen?« frage ich sie.
»Das wäre nett, Liebes.«
Die Morgendämmerung kam rasch. Meine Freundinnen waren erst ziemlich spät angekommen, und da wir uns seit über einem Jahr nicht gesehen hatten, gab es zu viel zu berichten, um nach einem Glas Wein gleich ins Bett zu gehen. Hazel hatte ihre Stellung gewechselt und war in ein Haus gezogen, das komplett renoviert werden mußte. Judys Mann war gestorben und hatte ihr das Familienunternehmen hinterlassen. Und Martha hatte die traurige
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