Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
»Wohin?« fragt sie und lenkt damit meine Aufmerksamkeit auf sich.
»Nach rechts in Richtung Stadt. Wir holen Joan Erikson ab.«
»Wen?« fragt Judy.
»Joans neue Freundin«, erklärt ihr Hazel. »Ich hab ihre Bekanntschaft gemacht, als ich letzten Winter zu Besuch war. Sie ist eine Göttin, ehrlich, über neunzig Jahre alt und anscheinend unermüdlich. Wartet, bis ihr sie kennenlernt.«
Während wir langsam durch die leeren Straßen fahren, mache ich sie auf die örtlichen Sehenswürdigkeiten aufmerksam – die Bücherei, den Dorfanger, Zeitungskioske, den Eisenwarenladen und natürlich die Kirche, bevor wir nach rechts in die Parallel Street und Joans Auffahrt biegen. Sie ist schon fertig und wartet, aufgekratzt, zweckmäßig gekleidet mit festen schwarzen Schuhen, einer Windjacke, die sie auf einem Kirchenbasar gekauft hat, und einer Wollmütze, die sie über die Ohren gezogenen hat.
»Du machst wohl Witze«, sagt Martha, blickt verwundert |112| über ihre Halbbrille. »Sie kann doch nicht über neunzig sein.«
»Zweiundneunzig, um genau zu sein«, erwidere ich. »Du wirst schon sehen.«
»Guten Morgen, alle miteinander«, sagt Joan mit ihrer melodischsten Stimme, bemüht, mit jeder einzelnen Blickkontakt aufzunehmen, bevor sie den Sicherheitsgurt anlegt. »Es ist wirklich nett von euch, mich mitzunehmen. Ich konnte letzte Nacht kaum ein Auge zumachen. Joan hat so viel von den Seehunden erzählt, und ich kann es kaum glauben, daß ich sie endlich besuchen werde.«
»Was ist denn so Tolles an den Seehunden?« fragt Judy.
»Na ja, man könnte sagen, daß sie mein Totem geworden sind«, antworte ich.
»Dein was?« fragt Hazel.
»Durch meine Spaziergänge am Strand und das Zusammensein mit solchen Geschöpfen statt mit Menschen habe ich so was wie ein neues Leben gefunden, neuen Auftrieb bekommen. Wenn du einmal in die dunklen Teiche der Augen eines Seehundes geschaut hast, bist du nie mehr dieselbe. An vielem davon ist Joanie schuld«, sage ich und tätschele ihr Knie. »Sie sagt mir immer wieder, ich müsse raus aus meinem Kopf und mich mehr mit meinem Körper befassen.«
»Da bin ich mir nicht so sicher, Liebes«, antwortet sie. »Ich glaube, es ist anders herum. Du bist diejenige, die mich dazu gebracht hat, jeden Tag nach draußen und an den Strand zu gehen.«
»Aber wie bist du auf die Seehunde gekommen?« bohrt Hazel nach.
»Ich hab in einer Dorfkneipe ein paar Fischer getroffen und gehört, wie sie über eine Invasion von Seehunden am South Beach und Monomoy geredet haben. Die Vorstellung, daß solche Geschöpfe hier in der Gegend sein könnten, war mehr als faszinierend. Ich hab mir einfach ein Herz gefaßt und einen der |113| Fischer gefragt, ob er mich zu ihnen mit hinausnehmen würde. Das hat mich richtig in Fahrt gebracht.«
»Aber das ist nicht alles, was dich in Fahrt gebracht hat«, fährt Hazel fort. »Du hast diesen Fischer mehr als einmal erwähnt. Bist du sicher, es waren die Seehunde, die dich so wild und salzig gemacht haben?«
»Ach, Hazel, du mußt doch immer alles auf den kleinsten gemeinsamen Nenner bringen.«
»Also?« fragt Hazel mit einem anzüglichen Lächeln.
»Ich habe nicht mit ihm geschlafen, falls du das meinst.«
»Wie schade«, sagt Hazel. »Das wäre doch mal ein saftiges Gesprächsthema zum Beginn unseres Wochenendes gewesen. Eine Affäre im Watt.«
»Wo bleiben in Gegenwart meiner neuen Freundin euer Anstand und gutes Benehmen?« rufe ich.
»Zensiert eure Gedanken nicht meinetwegen«, beharrt Joan. »Ich finde es herrlich. Außerdem lenkt es von Trübsinn und Schwermut ab.«
»Ja, ich wußte doch, daß wir uns in Ihrer Gegenwart so benehmen können, wie wir sind.« Hazel drückt Joans Schulter.
»Es geht darum, weniger ernst zu sein«, sagt Joan, »und mehr spielerisch. Kinder machen es richtig – zumindest so lange, bis jemand ihnen Vernunft einbimst und die Lebendigkeit nimmt. Ich bestehe immer darauf, daß Freude eine Pflicht ist.«
Wir fahren die Old Comers entlang, eine abgelegene Straße, gesäumt von Teichen und Wald, bis wir das Meer vor uns sehen und die gewaltigen Brecher, die vom Atlantik heranrollen. Vorbei am Fischpier und mehreren alten, verwinkelten Häusern kommen wir schließlich zum Leuchtturm, wo die Straße auf Meereshöhe abfällt. Auf einem einspurigen, mit Muschelschalen gepflasterten Weg erreichen wir den Jachthafen, wo vierzig oder fünfzig Boote festgemacht sind und uns der durchdringende Geruch nach trocknendem Tang
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