Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
Aufgabe gehabt, ihren Schwiegersohn |109| beim Sterben zu begleiten, während sie gleichzeitig ihre Tochter und Enkelkinder unterstützen mußte. Zu behaupten, eine von uns würde sich auf ihren Lorbeeren ausruhen, wäre lächerlich gewesen. Eher versuchten wir alle, uns über Wasser zu halten, und dieses Wochenende war dazu gedacht, ein Tonikum zu sein, wenn nicht gar eine vorläufige Heilung zu bringen.
Ich gehe in die Küche, um ein paar selbstgebackene Scones aufzuwärmen und Kaffee zu machen. Da es nur so wenige Wände im Cottage gibt, wachen allein von den Schritten selbst die tiefsten Schläfer auf. Und tatsächlich kommt eine nach der anderen kurz nach sechs in die Küche gestolpert. »Versprich mir, daß es sich lohnt«, witzelt Judy, während sie sich die Augen reibt und zur Kaffeekanne tappt. »Ich war noch nie eine Frühaufsteherin, und nach dem Streß des letzten Jahres leide ich unter Schlafmangel.«
»Du hast gesagt, du wolltest etwas von meinem Leben hier mitbekommen, stimmt’s? Morgens ist die beste Zeit. Außerdem möchte ich euch so vieles zeigen, wofür ein Wochenende kaum ausreicht. Ich nehme an, du hast gut geschlafen – schließlich hast du über sieben Stunden Schlaf gekriegt.«
»Wie ein Stein... was sonst? Das Dachzimmer erinnert mich an ein Baumhaus.«
»Brauchen wir unsere Regenjacken?« fragt Hazel, die von ihrem Schlafplatz auf der Veranda hereinkommt, bereits voller Ungeduld, endlich loszulegen.
»Nur jede Menge Kleiderschichten. Die Fahrt hinaus wird windig und kühl sein, aber sobald wir vor Anker gehen, werdet ihr euch zusammen mit den Seehunden in der Sonne aalen wollen.«
»Du lebst hier ja längst nicht so primitiv, wie ich mir das vorgestellt hatte«, sagt Judy und schaut hinauf zu der kathedralenartigen Decke. »Ich meine, das ist eine ziemlich schicke Bude.«
|110| »Bevor Robin sich darum gekümmert hat, war es äußerst bescheiden. Er ist daran schuld, daß es jetzt so schick ist.«
Martha taucht als letzte auf, und gleich darauf sind alle damit beschäftigt, Frühstück zu machen – Grapefruits aufzuschneiden, Brot zu toasten, Rührei zu braten, Milch aufzuschäumen und Tee zu kochen.
Ich ziehe mich etwas zurück, betrachte meine Freundinnen und merke, wie sehr mir weibliche Gesellschaft abgeht. »Ich hab euch vermißt«, sage ich, setze mich mit meinem Kaffeebecher an den Tisch, die Augen verschleiert. Erst jetzt erkenne ich, daß unsere Herzen sich immer noch nah sind, obwohl sich unser Leben weit voneinander entfernt hat. »Danke, daß ihr hergekommen seid.«
»Himmel, wir mußten doch nachschauen, ob es dir gut geht«, legt Hazel los. »Und begreifen, warum du uns zurückgelassen hast.«
»Du siehst anders aus«, sagt Martha. »Ich kann’s nur nicht genau benennen.«
»Vermutlich die Bräune. Die hab ich jetzt das ganze Jahr, weil ich kaum im Haus bin.«
»Nein, es ist mehr als das«, fährt Martha fort. Sie ist die Philosophin unter uns, bohrt immer nach, sucht unter der Oberfläche der Dinge. »Du hast so eine Gelassenheit. Zum Beispiel runzelst du die Brauen nicht mehr so wie früher.«
»Was vielleicht daran liegt, daß sie nicht mehr wütend ist«, vermutet Hazel. »Bevor du gegangen bist, konnte man nicht mehr mit dir reden, zumindest nicht vernünftig. Ich hatte schon Angst, du würdest eine weitere dieser wütenden Feministinnen werden.«
»Wirklich? Ich glaube, Frauen werden nicht deshalb wütend und aggressiv, weil sie Feministinnen sind, sondern weil sie leergepumpt sind – sie haben alle Verbindung zu sich selbst verloren, zu ihrer weiblichen Energie«, führe ich an.
»Dem kann ich nur zustimmen«, sagt Judy. »David zu verlieren |111| und Teil der Männerwelt zu werden, hat dazu beigetragen, daß ich die Verbindung verloren habe. Ich fühle mich schon ganz anders, seit ich hier die Meerluft atme und mich in deinem Wald verstecke.«
»Eines habe ich gelernt – wenn man keine Verbindung mehr zu seinem Instinkt und seiner Intuition hat, dann ist alles vorbei. Es ist kaum zu glauben, was ihr alle im vergangenen Jahr durchgemacht habt. Ihr könnt doch alle nur noch auf Autopilot geschaltet haben oder im Leerlauf sein. Ich hoffe, Cape Cod kann für euch genau so eine Segnung sein, wie es das für mich gewesen ist.«
»Tja, dann mal los«, ruft Hazel, füllt den Rest des Kaffees in eine Thermoskanne und packt Scones und Muffins in ihren Rucksack. »Es ist schon viertel vor sieben und wird immer später.«
Wir klettern alle in Judys Bus.
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