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Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau

Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau

Titel: Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan Anderson , Susanne Aeckerle
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Wir sehen aus wie Astronauten, die in einer Art Nebel auf dem Mond herumwandern. Einer aus ihrer Gruppe leidet an Dysenterie und wird auf einem Maultier abtransportiert.
    Meine Schläfen beginnen zu pochen, und mein Pulsschlag erhöht sich. Ich suche in meiner Tasche nach den Cocablättern, stopfe sie mir in die Backen und sauge daran, hoffe, so die weiteren Auswirkungen der Höhenluft abwenden zu können. Aber als meine Atmung flach wird, setze ich mich, schaue zurück und sehe, daß meine Reisegefährten dasselbe tun.
    Gustalvo findet, daß wir für heute Schluß machen sollen, obwohl es erst früher Nachmittag ist. »Es wäre besser, in niedrigerer Höhe zu schlafen«, sagt er und schlägt vor, daß wir absteigen, um uns weiter zu akklimatisieren. Die Vorstellung zurückzugehen ist eigentlich undenkbar, aber mir ist schwindelig, übel und so bin ich bereit, jeden Vorschlag anzunehmen. Wir schlagen das Lager auf einem herrlichen Plateau mit einer atemberaubenden Rundumsicht auf Berggipfel und Wolkenformationen auf, geben aber doch dem Schlafbedürfnis nach, |137| statt die Aussicht zu genießen. Stunden später, als ich aufwache und mir etwas zu essen und einen Pullover aus dem Rucksack hole, finde ich eine Liste, die ich vor der Reise aufgestellt habe, mit all den Gründen für diese Wanderung, angeregt durch Bemerkungen Joans, die sie nebenbei machte.
Werde aktiv
Lass Dich auf Abenteuer ein
Stelle Dich Deinen Ängsten
Nutze den Augenblick
Nimm Isolation in Kauf
Verpasse Deinen Sinnen eine Überdosis
Verlass Dich auf Deinen Körper
Wachse über Dich hinaus
    Als die Sonne vor zwei Stunden untergegangen ist, wurde der Himmel einen Moment lang schwarz und dann, als hätte jemand eine Million blinkender Lichter eingeschaltet, leuchtete die Bergwelt auf. Jetzt lege ich mich auf den Boden des Zeltes und schaue aus meinem kleinen Fliegenfenster zum Sternenhimmel hinauf, während ich der peruanischen Flötenmusik eines unserer Träger lausche. Zu all diesem und mehr hat mich Joan gedrängt.
     
    Der Morgen kommt rasch, und ich gehe vor den anderen los, erfrischt vom Schlaf. Mir ist bewußt, was vor mir liegt. Mehr noch, ich habe neuen Respekt für meinen alten Körper entwickelt: seine Muskeln dehnen sich, arbeiten im Einklang mit Gelenken und Knochen, meine Lunge arbeitet unermüdlich wie ein Akkordeon auf einem Hochzeitsempfang, die flachen, raschen Atemzüge sind durch tiefes Durchatmen ersetzt. Meine breiten Schultern scheinen den schweren Rucksack willkommen zu heißen, da er sie zurückzieht und meine Wirbelsäule aufrichtet. Plötzlich und endlich scheine ich meinen |138| Raum einzunehmen und »mein glorreiches Selbst« zu empfinden – diesen Begriff hat Joan für ihre Jugend geprägt, als sie selbst genau danach strebte. Der Berg gestattet mir fast eine Stunde völligen Wohlgefühls, bevor mein Schritt wieder zu einem Kriechen wird und sich mein kurzlebiger Auftrieb abschwächt. Doch ich bin entschlossen, nicht wieder zurückzugehen. In der Gewißheit, daß mich eine gute Einstellung immer voranbringen wird, stapfe ich weiter.
    Mehrmals glaube ich, den Gipfel fast erreicht zu haben, aber das ist nur eine optische Täuschung – der Gipfel ist nie so nahe, wie es scheint. Trotzdem, allein der Anblick des Grats ist Köder genug. Ich bin in Wolken gehüllt. Der Wind heult, und die Musik eines nahe gelegenen Bergbaches bricht die unheimliche Stille. Ich spüre, daß jeder Augenblick sowohl ein Anfang als auch ein Ende ist, ein kleiner Tod und eine Geburt, was man so nie wieder erlebt.
    Allmählich begreife ich den Mythos des Phönix – des magischen Vogels, der durch die Berge schwebte, schließlich starb, sich aus seiner Asche erhob und noch immer präsent ist in diesem fruchtbaren Land. Nicht nur die Menschen der Berge tragen seine Freiheit und Kraft in sich, während sie auf dem Inka Trail wandern, sondern auch wir Pilger, die wir als Suchende herkommen. Auf diesem Pfad zu wandern, diesen Ort zu sehen, ist der Unterschied zwischen einfachem Glauben an das Göttliche und dem Wissen davon. Zwischen meinen angestrengten Atemzügen gebe ich mir das stumme Versprechen, nie zu vergessen, stets nach weiteren schier unvorstellbaren Erfahrungen und Erlebnissen zu streben.
    Nach einer weiteren Stunde hieve ich meinen schweren Körper auf den Gipfel – eine fast ganz mit Eis überzogene Bergspitze, kahl, aber trotzdem einladend. Ungläubig schaue ich zurück auf die gewundene Linie des Pfades. Ich bin hier, aber einst war

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