Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
ich weit weg – da unten. Pure Gnade hat mich hier hinauf und hinüber geschwemmt. Ich möchte verweilen, diese |139| Leistung genießen. Euphorie setzt ein, vor allem, weil es von hieraus bergab geht, auf den berühmten Stufen der Inkas (insgesamt zweitausend) – ein Wunder der Baukunst.
Aber die Luft ist kalt, und die heikle Beinarbeit des Abstiegs ist nicht leichter, als den Aufstieg zu meistern, vor allem mit zitternden Knien und geschwächten Knöcheln.
Trotzdem, ich genieße die Bewegung und bin süchtig nach der Begegnung mit dem Unerwarteten. Nichts kann mich abschrecken – keine Giftschlange, die über meinen Pfad gleitet (ein Zeichen von Transzendenz, sagt Gustalvo), kein dunkler, glitschiger Tunnel, nicht die letzte Nachtwanderung, bei der wir uns, wäre kein Vollmond gewesen, sicherlich für immer in den Bergen verlaufen hätten.
Dann, als erwachte ich aus einem Traum, dämmert der letzte Tag herauf, und ich bin erstaunlich traurig, noch nicht bereit für das Ende der Reise. »Jetzt dauert es nicht mehr lange«, sagt Gustalvo. »Die alte Stadt liegt in Reichweite.« Büschel von Orchideen, gelb blühender Yucca und stachelige Büsche säumen den letzten Teil des Pfades, schmücken ihn wie für eine Heimkehr. Bald entdecke ich in der Ferne das Sonnentor, durch das ein breiter Lichtstrahl fällt, und ich beschleunige den Schritt, kann es kaum erwarten, einen ersten Blick zu werfen, möchte mich von den anderen absetzen.
Es ist ein Schock, an dem Ort anzukommen, für den ich so weit gelaufen bin – ein bittersüßer Augenblick, sogar beinahe enttäuschend. Aber als sich der Nebel, der so oft über Machu Picchu hängt, zu lichten beginnt, spüre ich, wie die Stadt mich anzieht. Langsam gehe ich über die hohen Terrassen hinunter in die engen, mit Kopfstein gepflasterten Gassen, in denen Lamas umherstreifen, und fühle mich demütig.
Dies war eine Reise von Körper und Seele, ein intimes Erlebnis zwischen diesem Land und mir. Ich begegne einer gut gekleideten Chilenin, die meinen Wanderstab sieht und mich mit Fragen nach den Schwierigkeiten des Inka Trails überschüttet. |140| Da ich momentan ganz von mir eingenommen bin, antworte ich ihr in meinem gebrochenen Spanisch, lasse alle problematischen Sachen weg, berichte nur von den guten Seiten, in der Hoffnung, daß sie und andere dorthin gehen, wohin sich die meisten nicht wagen.
Ich gehe weiter, hinab in den heiligen Bezirk, möchte wieder allein sein und wandere zwischen den sprechenden Steinen, sauge in mich auf, was sie zu sagen haben. Nicht länger eine aktiv Suchende, werde ich einfach zu einer passiv Aufnehmenden. Die Sonne hat die Felsplatte erwärmt, die ich mir als Sitz aussuche, und lockert allmählich meine schmerzenden Muskeln. Nach den vielen Etappen heiße ich das Ende willkommen. Wenn der Pfad ein Ort ist, seine Gefühle kennenzulernen, dann scheint Machu Picchu der Ort zu sein, damit ins Reine zu kommen.
Die Inka stellten sich alles als Dualität vor – männlich und weiblich, Leben und Tod, rechts und links, die Oberwelt und die Unterwelt. Ich erkenne ein Muster in den Steinen, das diese Dualität widerspiegelt, wähle einen Platz zwischen den beiden höchsten Steinen und öffne meine Handflächen, da ich ein stilles Ritual vorbereite, das die gemeinsamen Anstrengungen meines Geistes und meines Körpers ehrt. Vielleicht sollte ich Joans Anhänger abnehmen und auf einem dieser Steine zurücklassen. Es waren ihr Geist und Schwung, die mich hierher gebracht haben, ein Geist, der jetzt in mir lebt. Es paßt, den Anhänger hier zu lassen, sage ich mir, nehme ihn ab und stecke ihn in einen kleinen Spalt im Haupttempel.
Ich lasse meine Hand über die sehr glatten Steine gleiten, um mich daran zu erinnern, in Verbindung zu bleiben. Ich bin ausgeglichen geworden und habe durch immaterielle Werte wie Ausdauer, Geduld, Willen, Engagement Bodenhaftung bekommen – eine angenehme Kombination aus aktiven und passiven Zutaten, die für Harmonie und Gleichgewicht nötig sind. Hier zu sitzen und Bestandsaufnahme zu machen, zwingt mich |141| dazu, mich daran zu erinnern und zu schätzen, was es heißt, vital und lebendig zu sein – irgendwie das Irdische zu überschreiten, zerbrochen und wieder neu zusammengesetzt zu werden.
Diese Stadt, geschaffen von den Inka, die alles Wahre, Natürliche und Wirkliche verehrten, ist ein Ort, wo Himmel und Erde übereinstimmen. Kein Wunder, daß ich befriedigt bin und mich sicher fühle, ganz bei mir selbst.
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