Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
Jedes Ziel verlangt etwas anderes von meinem Körper, jede erreichte Leistung gibt mir ein neues Gefühl.
»Laß deine Muskeln das für dich tun, was dein Verstand nicht tut«, sagte Joan während unseres Trainings, und ich befolge ihren Rat. Ich spüre den Zug meines Fleisches, das sich der Schwerkraft anpaßt – in Richtung der Erde unter meinen Füßen, und gerade jetzt empfinde ich eine feste Bodenhaftung. Beschäftigt mit der momentanen Aufgabe, bin ich im Hier und Jetzt, lasse mir nichts von der Natur in meiner Umgebung entgehen. Wir stapfen durch karge Wüste, gesprenkelt mit roten Blumen, die die Ödnis schmücken, dann durch üppig grünen Dschungel, und bald darauf klettere ich eine steile Felswand hinauf.
Auf Zehenspitzen überwinde ich einen Felssturz, bemüht, keinen Steinschlag auszulösen, schreite dann vorsichtig entlang eines schmalen Grats zu einer langen Brücke, die sich über eine endlos tiefe Schlucht spannt. Ich erstarre. Wie soll ich das schaffen? Ich suche nach einem Umweg, einem Weg außen herum, aber es gibt keinen. Ich muß vorwärts gehen oder aufgeben, an mich glauben oder meiner Furcht nachgeben. Behutsam tappe ich über die vier wenig vertrauenerweckend aussehenden Baumstämme, halte die Luft an, bis ich sicher auf der anderen Seite stehe. Triumphe wie dieser bereiten mich auf den nächsten vor.
Trotz meiner wachsenden Zuversicht und einem Quentchen Genuß hat auch dieses aufregende Abenteuer seinen Sättigungspunkt. Nach zehn Stunden stetigen Wanderns träume ich von einem Lagerfeuer, warmem Essen und Kuscheln im Schlafsack auf einem romantischen Berggipfel. In dem Moment verwandelt |135| sich der Sprühregen in einen Guß, und wir suchen Schutz unter einem Baum in der Nähe einiger Hütten, die neben dem immer schlüpfriger werdenden Pfad stehen. Gustalvo verhandelt mit dem Besitzer eines mehr als bescheidenen Gehöfts, bittet um Erlaubnis, daß wir in seinem Hof unser Lager aufschlagen dürfen. Das ist etwas, womit ich nicht gerechnet habe – zum ersten Mal ein Zelt zwischen Tieren und Dung aufzuschlagen, wobei die peruanische Familie um uns herumsteht und uns ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt. Unsere Kocher anzuzünden, kommt nicht in Frage. Kraftriegel und Frühstücksflocken mit Kondensmilch werden unsere Abendmahlzeit sein.
»Die Anstrengung macht es so toll«, hat mir mein Sohn, der Langstreckenradfahrer, erzählt. Im Moment kann ich das nicht nachempfinden, während ich schweigend in eine Ecke des Zeltes sinke. Aber auch unter solchen Umständen Halt zu machen, ist eine Erleichterung, und bald nutze ich selbst diese Ruhepause aus. Morgen klettern wir in dünnere Luft – 4198 Meter – auf den Dead Woman Paß, ein unheilvoller Name, der meinen Ängsten neue Nahrung gibt. Ich frage mich, wie viele Menschen bei der Überwindung des Passes tatsächlich gestorben sind. Zum Glück lösen sich unter dem rhythmischen Prasseln des Regens meine morbiden Gedanken bald auf; er fällt auf alle Seiten des Zeltes und lullt mich ein.
Ich wache früh auf, packe leise meine Sachen zusammen, versuche heroisch, nicht mehr zur Nachhut zu gehören. Gustalvo hat uns gewarnt, daß der Aufstieg von Anfang an steil ist, und ich beginne ihn mit dem Gefühl, auf einer endlosen Leiter zu sein. Ein einsamer Stock liegt quer in dieser baumlosen Höhe über dem Pfad, und ich hebe ihn rasch auf, um ihn als Wanderstab zu benutzen.
Zehn Schritte, anhalten, atmen, dann wieder los. Ich beschränke mich zwangsläufig darauf, nur noch die Schritte zu zählen – habe kein Verlangen mehr danach, die Szenerie in |136| mich aufzunehmen. Ich strenge mich an, möchte nur den Aufstieg hinter mich bringen, statt die wolkenverhangenen Berge, Wildblumen und Gletscherseen entlang des Weges zu genießen. Ich hatte versprochen, im Augenblick zu verharren und nicht nur an das Ziel zu denken, aber jetzt habe ich nur noch das Überleben im Kopf. »Noch bevor du losgehst, mußt du deine Leistungsfähigkeit vor Augen haben«, hatte Joan mich gewarnt, »wieviel Kraft du aufbringen kannst, was du schaffen kannst. Dann wirst du die Zuversicht haben, weiter über dich hinauszuwachsen als je zuvor.«
Eine Zeitlang mache ich stetige Fortschritte, nachdem die Mechanik meines Körpers in Gang gesetzt ist. Gerade als ich glaube, daß der Wind mein einziger Gefährte ist, komme ich an mehreren französischen Studenten vorbei, aber wir sprechen nicht – keiner von uns kann es sich erlauben, einen Atemzug zu verschwenden.
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