Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
sonderlich athletisch bin, hatte ich einen Drang zum Unkonventionellen entwickelt und sehnte mich danach, die Sicherheit meiner Existenz aufzugeben. Da ich viele Teile meiner Seele entlang meines Lebensweges zurückgelassen hatte, kam ich auf die Idee, daß so eine Wanderung mir die Chance geben könnte, einiges von mir zurückzubekommen. Wie der Psychologe M. Scott Peck sagt: ›Ein Leben in Weisheit muß Kontemplation enthalten, verbunden mit Aktivität‹.«
Ich halte inne und schaue mich um. Kein Gähnen, keine schläfrigen Blicke, keine herabsackenden Köpfe – nur auf mich gerichtete Augen. Ich atme durch, lächele und fahre, ohne einen Blick auf meine Notizen, mit der Geschichte fort.
»Mir fiel auf, daß ein Jahr nur 8700 Stunden hat und es wichtig ist, dafür zu sorgen, daß einige dieser Stunden nur für |156| mich sind. Ich wartete nicht mehr darauf, daß mein Schiff einlief – ich schwamm lieber zu ihm hinaus, genoß jeden Tag, statt darauf zu warten, daß die Zukunft stattfand.
Es geht darum, sich weit genug zu verlieren, um sich selbst zu finden«, erzähle ich dem Publikum. »Das stammt nicht von mir. Robert Frost hat das gesagt, aber es trifft zweifellos auf mich zu. In allen vier Jahreszeiten allein auf Cape Cod zu sein, hat mich gelehrt, wie wichtig Zurückgezogenheit ist. Nur wenn man sich zurückzieht, kann man mit Ausbesserungsarbeiten beginnen und sich dann regenerieren.« Ich schaue direkt zu Joan – weiß, daß ich eines ihrer Themen berührt habe, indem ich eine Ableitung von Generativität benutzte: zurückgeben, etwas aus nichts schaffen, weitergeben, was man weiß. Sie hatte mir gesagt, meine Stärke sei mein Mitgefühl. »Du mußt als Kind viel geschauspielert haben«, sagte sie, »denn ich habe bemerkt, daß du immer die Sorgen anderer bedenkst. Du scheinst auch ein Einfühlungsvermögen in Menschen zu haben, die nicht beachtet werden. Um ihnen zu helfen, hast du gelernt, daß du begreifen mußt, woher sie kommen.«
Während ich mich auf Joan konzentriere, verliere ich den Faden und schaue zum ersten Mal auf meine Notizen. Der ganze Vortrag ist eine einzige Abschweifung, merke ich. Aber nach der Zuhörerreaktion zu urteilen, zu der Lachen, Tränen und viel Kopfnicken gehören, scheine ich etwas in ihnen berührt zu haben. Auf jeden Fall ist niemand aufgestanden und gegangen, und viele sitzen immer noch auf der Stuhlkante. Ich schaue zur Uhr an der Rückwand. Eine Stunde ist vergangen. Es wird Zeit, zum Schluß zu kommen. »Und daher«, sage ich, »wünsche ich Ihnen allen, daß Sie so unvollendet bleiben wie die Wasserlinie am Strand und immer wieder über sich selbst hinausgehen.«
Der Applaus ist ohrenbetäubend. Als ich meine Karteikarten einsammele und zu meinem Stuhl zurückgehen will, fragt mich die Bibliothekarin, ob ich bereit wäre, ein paar Fragen zu beantworten, |157| worauf sich mehrere Hände heben. Ich nicke einer leicht ergrauten Frau in der zweiten Reihe zu, die wissen möchte, warum ich beide Reisen ohne meinen Mann unternommen habe. »Sind wir dazu bestimmt, allein zu reisen?« fragt sie.
»Ich weiß ehrlich nicht, wie wir uns selbst inmitten einer Menge finden sollen«, antworte ich. »Ich glaube, sich zurückzuziehen ist die einzige Möglichkeit zu begreifen, was geändert werden muß. Die Isolation zwingt einen, die Fragen zu stellen, denen wir alle offenbar ausweichen wollen. Also, ja, an irgendeinem Punkt müssen wir den Weg allein gehen. Es gibt keine Alternative.«
Aber die Frage bleibt im Raum. »Kann man dieselben Ergebnisse erzielen, wenn man nicht so weit weggeht?« fragt eine Frau in den Dreißigern. »Muß so eine Reise immer exotisch sein?«
»Nun ja, Cape Cod war für mich nicht weit weg. Diese vertraute und einfache Umgebung hat mich auf den Weg gebracht«, mutmaßte ich. »Ohne Plan oder feste Zeiteinteilung – keine erreichbaren Ziele in Sicht – habe ich mein Leben zur Abwechslung mal einfach geschehen lassen. Dann bot mir die Bergluft in Peru Klarheit für zukünftige Wege. Es mußte nicht Peru sein. Aber ich mußte an einen Ort, der eindeutig anders war.«
»Was war denn so quälend an Ihrem Leben, daß Sie überhaupt weglaufen mußten?« fragt ein Mann aus der ersten Reihe. Ich zögere, fühle mich überrumpelt. Meine Wangen werden knallrot. Was war denn so falsch? Und wie viel muß ich diesem total Fremden erzählen? Ich schlucke und fahre fort, sehe keine andere Möglichkeit, als die Wahrheit zu sagen.
»Zum einen war meine
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