Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
sagst du etwas«, meint Joan. »Bitte laß deine Sonne – deine konzentrierte Energie, deine eigene verborgene, authentische Lebenskraft – aus dir strahlen.«
»Wie bitte? Das ist perfekt ausgedrückt. Genau darüber rede ich.«
»Ein japanischer Gelehrter, Raicho Hiratsuka, hat das gesagt. Um am Ende nicht zu versagen, mußt du dich auf dich selbst verlassen können und wissen, daß du mit allem fertig wirst, und vor allem mußt du die Verzweiflung mit ein bißchen Humor angehen. Leichtigkeit, Phantasie, Flexibilität – das sind die Dinge, die man für einen Neuanfang braucht.«
|151| Die Bühne betreten
Ich scheine im Ort zu einer Art Kuriosum geworden zu sein. Das wäre mir nicht weiter aufgefallen, wenn mich Harriet, die Bibliothekarin, nicht vor ein paar Wochen angerufen und mir erzählt hätte, ich sei zu einem Objekt der Faszination geworden. »Zuerst läufst du von zu Hause weg und lebst wie eine Einsiedlerin, und dann hören wir als nächstes, daß du über den Inka Trail wanderst. Wir sind mehrfach gefragt worden, ob du nicht einen Vortrag halten könntest – hauptsächlich über Machu Picchu, aber ich bin sicher, keiner hätte was dagegen, wenn du auch über das Jahr erzählen würdest, das du allein verbracht hast. Nur wenige Frauen machen etwas so Drastisches«, fuhr sie fort. »Wir sind neugierig darauf, was du aus beiden Situationen gelernt hast.«
»Eigentlich bin ich noch dabei, das alles zu verarbeiten«, antwortete ich. »Ich weiß nicht, ob ich viel zu bieten habe, aber ein Vortrag könnte ein paar Antworten erzwingen.«
»Wie wär’s Ende nächsten Monats, vielleicht am Samstag, dem dreißigsten?« fragte sie.
»Mein Kalender ist noch vollkommen frei«, erwiderte ich.
»Also, dann ist es abgemacht. Ich habe noch genug Zeit, es in das Mitteilungsblatt zu setzen«, meinte sie, und wir legten auf. Sofort verspürte ich einen Energieschub. Vielleicht half mir ein fester Termin dabei, etwas zu formulieren, was sich drucken ließ. Seit Machu Picchu hatten meine Gedanken und Ziele Gestalt angenommen, genau wie mein Schreiben. Ich konnte es kaum erwarten, Joan anzurufen und ihr zu erzählen, was geschehen war.
|152| »Heh, weißt du was?« sagte ich ganz atemlos. »Ich bin gebeten worden, einen Vortrag in der Bücherei zu halten. Wie findest du das?«
»Das ist ja wunderbar, Liebes. Ich wußte, daß es nur eine Frage der Zeit war. Ich hab dir doch gesagt, daß du Menschen veränderst. Du hast bereits mich verändert.«
»Ach, hör auf, das kann doch nicht sein.«
»Doch! Du hast mich dazu gebracht, bei jedem Wetter am Strand spazierenzugehen, nach Metaphern zu suchen, mir in meinen eher düsteren Augenblicken den Wind um die Nase wehen zu lassen. Vielleicht bist du dazu bestimmt, Menschen anzuregen, ihre Grenzen auszutesten.«
Ihr Vertrauensvotum war alles, was ich brauchte. Sofort nahm ich mir das Tagebuch vor, das ich auf dem Inka Trail geführt hatte, und war verblüfft von der unzensierten Stimme, die in Peru lebendig wurde:
Begrüßt vom Morgennebel, der sich auflöst, dringt die Luft mit Limonenblütenfingern in mein Zelt und berührt mein schläfriges Gesicht. Ständig bin ich von der magischen Präsenz der Natur umgeben. Bevor ich auch nur den Kopf in diese friedliche Welt hinausstrecke, achte ich darauf, dem Universum für das Licht zu danken, den Inka für den Pfad, den Elementen für ihre Kraft und der Sonne für ihre Wärme. Danach krieche ich aus dem Zelt und schlendere zu einem Bach in der Nähe, um Wasser zu holen. Meine übliche Hast wird durch die Notwendigkeit gebremst, das Wasser zu reinigen, wonach ich meinen kleinen Kocher anzünde und warte, bis der Kaffee durchgelaufen ist. Es gibt nichts Besseres, als heißen Kaffee zu trinken, während man auf einem Holzstamm zwischen hoch aufragenden Felsgraten bei der Musik des strömenden Wassers sitzt. So sieht mein Morgenritual aus. Ich hole mehrmals tief Luft, bevor ich über den heutigen Tagesplan nachdenke. Laut Gustalvo werden wir die Leiter der Erde hochklettern, uns
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durch stacheliges Dschungeldickicht zwängen, dann aus dem dampfenden Wald ins Freie treten und an kleinen Tempeln aus geschichtsträchtigen Steinen vorbeikommen...
Wie sollte ich das alles mit anderen teilen? Mir fiel Joans Vorschlag ein, die Rolle der Reporterin zu übernehmen, also begann ich, mir selbst schwierige Fragen zu stellen. Als erstes, warum habe ich diese Herausforderung überhaupt angenommen? Es ging mir nicht um
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