Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
körperliche Erfahrung – dem bin ich immer ausgewichen. Lag es daran, daß mich meine Cousine zu dem Wagnis aufgefordert hatte? Gut möglich, und außerdem war da die Tatsache, daß ich insgeheim neidisch war auf meine erwachsenen Söhne, die sowohl in den Anden als auch im Himalaja gewandert waren – zwei Abenteuer, von denen ich mir nie hätte träumen lassen, daß sie für mich möglich sein könnten. Es schien eine Chance zu sein, meine verlorene Jugend wiederzugewinnen. Ich war begierig darauf, verwegen zu sein und meine Grenzen auszutesten. Vielleicht war die Wanderung auch dazu gedacht, mir und meiner Familie zu beweisen, daß ich noch längst nicht am Ende war, sondern gerade erst loslegte!
Dann war da Joans ständige Erinnerung daran, niemals einen Ruf zu überhören, der mich aus meinem Kopf heraus und in meinen Körper bringen würde. So eine Wanderung sorgte dafür, daß ich meinen Körper endlich ernst nahm, und unterwegs würde ich zwangsläufig in Verbindung mit den Elementen sein. Joan glaubt, daß es keinen Ersatz für die Natur gibt – ohne sie ist man zu einer dumpfen, leblosen Existenz verdammt. Während meines allein verbrachten Jahres hatte ich mich immer stärker auf die Lektionen der Natur verlassen. Und im exotischen Peru wurden die Botschaften noch eindringlicher.
Viel mehr als alles andere war die Wanderung auf dem Inka Trail eine spirituelle Suche. Meine Außenwelt hatte sich verschoben, |154| und ich mußte herausfinden, wer ich, auf mich allein gestellt, fähig war zu sein – wie weit ich gehen, mich strecken und was ich erreichen konnte. Je mehr ich meine Erinnerungen und Notizen durchforschte, desto mehr erkannte ich den Sinn der Reise und warum ich sie unternommen hatte. Dieser kleine Vortrag würde nicht wie ein Reisebericht oder die Erzählung über die Abenteuer in einem fremden Land klingen. Ich begann mich regelrecht auf mein winziges Debüt zu freuen.
Aber als der vereinbarte Tag näherkommt, bin ich plötzlich von derselben Beklommenheit erfüllt wie zu Beginn der Wanderung. Das ist nur mein Ego, rede ich mir ein, das sich immer so darstellen will, daß die Leute mich mögen. Ich beruhige mich mit dem Gedanken, daß ich jede Menge Notizen und viele Fotos habe, falls meine Erinnerung versagt. Trotzdem bin ich verblüfft, als ich in den Parkplatz einbiege und ihn voll belegt vorfinde. Die können doch nicht alle meinetwegen hier sein, oder? Während ich in Peru war, hatte ich mir einige Redensarten gemerkt, um mir damit Mut zu machen, und jetzt fällt mir eine davon ein, von den indianischen Regal Black Swan: »Die einzige Möglichkeit, die Prüfung zu bestehen, ist, die Prüfung zu machen.« Ob ich einen Vortrag halte, eine Wanderung unternehme oder einen Berg besteige, es geht immer darum, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Ich hebe das Kinn, trete durch die Tür der Bücherei und gehe zum Auditorium.
Sehr zu meinem Verdruß ist der Raum voll besetzt – Menschen in allen Altersgruppen und Lebensstadien; sogar ein paar Männer sind darunter. Offenbar ist die Vorstellung, allein zu leben oder wilde Abenteuer durchzustehen, erregender als ich angenommen hatte. Ich schlucke und schleiche mich in die letzte Reihe, hoffe, mich hier bis zu meinem Vortrag verstecken zu können.
Ich kann mich kaum an Harriets Einführung erinnern... |155| irgendwas darüber, daß ich ein weiblicher Thoreau sei, der in dieser fragilen Landschaft von Cape Cod wie auch dem fernen Peru nach Trost und einem Lebensentwurf suchte. Ihre Beschreibung meiner Odyssee klingt ganz zutreffend, denke ich, als ich zum Podium gehe. Ich lege meine Notizkarten vor mich, schaue einen Moment ins Publikum und nehme Blickkontakt zu Joan auf, die in der Mitte des Raumes sitzt. Sie lächelt mir freundlich zu und nickt dann, als wollte sie sagen, leg los.
»Ich glaube, der Grund, warum ich überhaupt von zu Hause fortgelaufen bin, war das Bedürfnis, von dem vorgezeichneten Weg abzuweichen – mich wie nie zuvor herauszufordern«, beginne ich und weiche damit bereits von dem vorbereiteten Vortrag ab. »Ich hatte mein Leben damit verbracht, die von mir erwarteten Rollen zu spielen und mich angemessen zu verhalten. Dann beschloß ich eines Tages einfach, daß es Zeit sei, die ausgetretenen Pfade zu verlassen.
Meine Reise nach Peru begann mit einem ähnlichen Wunsch – zu erfahren, ob ich über meine Grenzen hinausgehen kann. Obwohl ich nicht das Format eines Everest-Besteigers habe und auch nicht
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