Spaziergang im Regen
Jessa und fing an, Chopins Zweite Nocturne zu spielen, nach kaum spürbarem Zögern.
Kapitel 12
A ls sie bei Shara zu Hause vorfuhren, war es bereits dunkel, so dunkel, wie es eben in London jemals wurde. Diesmal war weder der Verkehr schuld, noch hatten sie verschlafen.
Shara war um sieben Uhr aufgestanden; als sie nach unten kam, fand sie Jessa in Lotusposition sitzend vor dem Altar. Jessas Hände ruhten auf ihren Schenkeln, ihre Augen waren geschlossen und ihre Lippen leicht geöffnet. Ihre Haltung war perfekt, und die einzige Bewegung ihres Körpers kam vom Atmen.
Am Tag zuvor war die Frage aufgekommen, ob sie beim Meditieren schlucken musste. Jessa hatte erzählt, dass sie gelernt hatte, die Zunge gegen den Gaumen zu pressen, um die Speichelproduktion zu hemmen. Aber nach all den Jahren der Übung fiel sie ganz leicht in Trance und musste nicht mehr darüber nachdenken.
Shara erinnerte sich daran und ließ Jessa allein. Sie ging in die Küche, um Kaffee zu machen. Sie wusste inzwischen, dass Jessa an den Tagen, an denen sie meditierte, keine Anregungsmittel und auch keinen Alkohol trank, und das war jeder Tag, den sie in der Hütte verbrachten. Shara hatte allerdings Grenzen, wenn es darum ging, was sie selbst für eine Rolle aufgeben würde.
Also setzte sie Teewasser auf und nahm Jessas Lieblingstasse aus dem Schrank, damit sie sich ihren Kräutertee machen konnte, sobald sie fertig war. Während ihr Kaffee kochte, ging sie wieder nach oben, um zu duschen.
Am späten Vormittag wanderten sie noch einmal zu Harry hinüber, ohne Eile, obwohl der Himmel sich wieder einmal verdunkelte. Shara hoffte insgeheim, dass es wieder zu regnen beginnen würde, wie an ihrem ersten Tag. Aber im Einklang mit dem gedämpften Sturm in ihrer Beziehung verdeckten die Wolken die Sonne und jagten sich gegenseitig über den Himmel, gestatteten sich aber nicht, ihre Last über den Wildwiesen und Bäumen loszulassen, zwischen denen die beiden Frauen wanderten.
Sie kehrten wieder zurück zur Hütte, mit Harry auf den Fersen, und veranstalteten halb verhungert und den Wolken zum Trotz ein Picknick vor der Haustür. Leider mussten sie schnell feststellen, dass Harry eine zerstörerischere Wirkung auf ein spontanes Picknick hatte als ein ganzes Ameisenheer. Sie witzelten darüber, und Shara schob Harry ab und an heimlich ein Stück von ihrem Brot oder einem Apfel zu. Als Jessa deswegen mit ihr schimpfte, musste sie noch mehr lachen, vor allem, weil Harry so aussah, als würde er schadenfroh grinsen.
Anschließend gingen sie rein, um die Essensreste wegzuräumen beziehungsweise zum Kompost zu geben, und als sie wieder nach draußen kamen, entdeckten sie, dass Harry dabei war, die Decke, auf der sie gesessen hatten, als Nachtisch zu verspeisen. Jessa schimpfte ihn aus, und er drehte ihr den Rücken zu, schlug mit dem Schwanz und verabschiedete sich dann. Shara beobachtete das Ganze von den Stufen aus und musste so sehr lachen, dass ihr die Tränen die Wangen herunterliefen. Das brachte ihr einen strengen Blick von Jessa ein, der plötzlich bewusst wurde, wie lustig die Situation eigentlich war. Was als ernste Rüge für Shara gedacht war, kam als Kichern und Schnauben heraus, worüber Shara noch heftiger lachen musste. Nach einer Weile brachte sie endlich hervor: »Jetzt weiß ich wenigstens, was Ziegenböcke machen, wenn ihnen der Mittelfinger fehlt!«
Den Nachmittag verbrachten sie damit, in der Hütte alles wieder ordentlich zu verstauen und arbeiteten in wohltuender, einvernehmlicher Stille. Sie stellten Wasser- und Gashähne ab, schalteten Schalter aus und sorgten dafür, dass alles Leichtverderbliche entweder eingepackt oder auf dem Komposthaufen war. Shara war überrascht, wie wenig echten Müll sie mit zurücknehmen mussten, nachdem sie Papier und Kartons, Flaschen und Dosen fürs Recycling vorgetrennt hatten und alles Organische auf dem Kompost gelandet war. Jessa nahm sonst die Bettwäsche immer zum Waschen mit nach London, aber Shara überredete sie dazu, diesmal in der Hütte zu waschen. Wenn sie schon eine Waschmaschine und einen Trockner dort hatte, warum sollte sie dann den ganzen Kram mit nach London nehmen? Jessa war schnell von ihrer Logik überzeugt, weshalb Shara sich weniger schuldig fühlte, sie zu einer Hausarbeit zu überreden, die sie Daheim sicher nicht oft selbst erledigte, nur weil sie so noch ein paar weitere Stunden miteinander verbringen konnten. Am späten Nachmittag fielen ihnen beiden keine Ausreden
Weitere Kostenlose Bücher