Spaziergang im Regen
Schock an.
Kapitel 13
S hara zeigte dem Mitarbeiter der Fluggesellschaft ihre Bordkarte, und er hieß sie in dem Warteraum für die Passagiere der ersten Klasse willkommen. Sie hatte Jessa nicht am Abflugschalter gesehen, und wenn sie hier auch nicht war, dann nutzte sie wohl die Gelegenheit, zollfrei einzukaufen. Oder sie war noch gar nicht eingetroffen. Jessa schien ihr weder der Typ Frau, die es riskieren würde, einen Flug zu einem so wichtigen geschäftlichen Treffen zu verpassen, noch der Typ, Heerscharen von Urlaubern in einer Gucci-Boutique zu trotzen, also ließ sie nervös den Blick durch den Raum schweifen.
Jessa trug dunkelblaue Jeans, Sandalen und eine blassblaue Bluse mit hochgerollten Ärmeln. Sie hatte ihre langen Beine ausgestreckt und auf einer Louis Vuitton-Tasche abgelegt, ihre Knöchel waren verschränkt und die perfekte Pediküre deutlich sichtbar. Ihre Sonnenbrille war zurück in ihre Haare geschoben, und ihre Nase steckte in Jeanette Wintersons Der Leuchtturmwärter . Ein sommerlich-dünner Kaschmirblazer hing über dem Sitz rechts neben ihr, aber ohne ihn sah sie eher aus wie eine Studentin und nicht wie eine klassische Musikerin, noch viel weniger wie eine Dirigentin.
Eine sehr elegante und wunderschöne Studentin , gestand Shara sich ein. »Das ist seit langem ihr bestes Buch, findest du nicht?«
Jessas Kopf schnellte hoch, und Sharas Herz begann zu klopfen, als sich ihre Blicke trafen.
Jessas Augen leuchteten auf, als sie Shara ansah, und sie nahm sich Zeit, sie genauer zu betrachten. Shara hatte eine cremefarbene Leinenhose an und ein smaragdgrünes Baumwolloberteil, das das Grün in ihren Augen betonte. Sie hatte die zur Hose passende legere Jacke über ihren Arm gehängt, und die wie üblich übergroße Handtasche saß auf dem Handgepäck, das sie hinter sich herzog. Auch sie hatte ihre Sonnenbrille in die Haare geschoben, und ein paar der weichen Strähnen fielen über die Gläser. Sie versuchte nicht, ihr Lächeln zu verbergen, das sich automatisch auf ihre Lippen stahl, als sie Jessa anschaute, obwohl sich in ihren Augen auch Besorgnis wiederspiegelte.
Jessa bemerkte alles: die hochhackigen Sandalen, die Sharas zierliche Gestalt um mehrere Zentimeter anwachsen ließen, die vollen Brüste in dem enganliegenden Oberteil, der Kontrast der goldenen Haut zum Grün des Stoffes, und der hungrige Blick, den sie Jessas Lippen schenkte, bevor sich ihre Blicke trafen.
Jessa bemerkte auch, wie Sharas Lächeln verblasste und von einem fast verzweifelten Blick ersetzt wurde, was sie davon abhielt, irgendetwas zu dem zu sagen, das am Vorabend zwischen ihnen passiert war.
»Ja, da stimme ich dir zu. Ich fand Das Schwesteruniversum ziemlich gut, im Gegensatz zu den Rezensenten«, erwiderte Jessa anstatt eines Grußes. »Aber ich war nicht so beeindruckt von allem danach. Moment, lass mich das konkretisieren: selbst an ihrem schlechtesten Tag schafft Winterson es, Sätze, Absätze und Ideen zu formulieren, die mich mit ihrer Brillanz zum Schweigen bringen, aber sie hat seit langem nichts mehr geschrieben, das diese Ideen so gut zusammenbringt, wie das hier.«
»Ganz meine Meinung.« Shara nickte und setzte sich an Jessas linke Seite. »Allerdings gefallen mir ihre Essays über Kunst besser als Das Schwesteruniversum .«
» Art Objects ? Ja, ich war zwar nicht immer mit ihr einer Meinung, aber sie hat einen bemerkenswerten Verstand, und es war interessant, ihre Ansichten zu lesen.« Unfähig der Versuchung zu widerstehen fragte sie Shara: »Ich nehme nicht an, dass du Orangen sind nicht die einzige Frucht gelesen hast?«
»Doch«, erwiderte Shara und wandte den Blick ab. »Habe ich. Mein Vater war zwar nicht ganz so verrückt wie die Mutter der Protagonistin, aber es gab genug Ähnlichkeiten, um es zu einer beunruhigenden Lektüre zu machen.« Als sie Jessas verwirrten Blick bemerkte, fügte sie hinzu: »Mein Vater ist Pfarrer – und alleinerziehend.«
Jessa nickte, stellte aber nicht die naheliegende Frage nach Ähnlichkeiten in Bezug auf die sexuelle Orientierung der lesbischen Hauptfigur in Wintersons erstem Buch und Shara selbst. Dass Shara dies vollkommen außen vorgelassen hatte, war eine so prägnante Unterlassung, dass es Jessa aus dem Konzept brachte. Wie tief hat sie dies vor sich selbst versteckt? wunderte sie sich und wandte den Blick von Shara ab und hin zum großen Flachbildfernseher, das dankbarerweise auf stumm gestellt war.
»Shara, wegen gestern Abend . . . ist mit
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