Spaziergang im Regen
Gebrochenes Herz. Shara dachte über die Bedeutung dieser Ausdrücke nach und welche Bedeutung sie für sie persönlich hatten, bevor sie Jessa begegnet war. Sie vermutete, dass sie immer abstrakte Ideen gewesen waren. Schließlich war das Herz ein Muskel, der nichts mit Gefühlen zu tun hatte: Wenn es aufhörte zu schlagen, hörte der Mensch auf zu leben. Das war eine einfache biologische Tatsache. Aber nichts war einfach, seit sie Jessa in Toronto zurückgelassen hatte. Mittlerweile wusste sie, dass ein biologisch gesundes Herz schmerzen konnte, dass es brechen konnte, und – das Grausamste von allem – obwohl es zerbrach, überlebte sie, um den Schmerz zu erdulden.
Sie weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte, schluchzte ihren Kummer aus sich heraus, über den Verlust von etwas, das ihr erst klargeworden war, als sie es verloren hatte. Sie spielte ›Was wäre wenn‹-Szenarien durch, bis es sie an den Rand des Wahnsinns brachte. Was wäre passiert, wenn sie Jessa an dem Tag geküsst hätte? Wenn sie an dem Abend ihres Abschiedsessens in der Hütte einfach den Hörer aufgelegt und Jessa in ihr Bett eingeladen hätte? Wenn sie Jessa geliebt, sie berührt, sie geschmeckt und befriedigt hätte? Wenn sie an dem Morgen in New York zugegeben hätte, dass Jessa, nach nur wenigen Wochen, das Wertvollste in ihrem Leben war, und dass sie sich ihre Zukunft nicht ohne sie vorstellen wollte?
Was wäre passiert, wenn sie alle oder eines dieser Dinge getan hätte? Wären sie nun zusammen, oder wäre sie trotzdem allein mit ihren lebhaften Erinnerungen, allerdings nicht nur von ihren Spaziergängen im Wald und langen Gesprächen in der Nacht, sondern überdies mit Erinnerungen daran, wie sie sich geliebt hatten, was sie sicherlich tief in ihrer Seele berührt hätte?
Schließlich hatte Jessa offenbar nicht empfunden, was sie selbst empfunden hatte – was sie noch immer empfand –, sonst hätte sie sich nicht auf Lucia einlassen können. Das war doch eine ganz einfache Sache.
Was sie für Jessa empfand, hatte sie noch nie zuvor erlebt. Es verzehrte sie. Sie wusste, dass es ihre Darstellung in dem Film positiv prägen würde, aber es würde den Rest ihres Lebens dauern, es aus ihrer Seele zu vertreiben. Allein die Erinnerung daran, Jessa zu küssen, die Intimität, ihren Mund auf dem ihren zu fühlen, brachte Tränen in ihre Augen und ließ das Herz in ihrer Brust schneller schlagen, obwohl der Kuss eine sinnliche Dimension hatte, die sie nach Jessa in einer Art verlangen ließ, die wahrscheinlich als schändlich betrachtet werden sollte.
Sie wusste, dass es mehr als körperlich sein würde, Jessa zu lieben: es wäre sakral. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, mit einer anderen Person zusammen zu sein, wo sie so viel für Jessa empfand. Sie hoffte aufrichtig, dass sich die Intensität ihrer Gefühle mit der Zeit legen würde, weil sie wieder leben wollte – nicht nur weiterhin mit einem gebrochenen Herzen existieren, das fortfuhr zu schlagen.
Es war eine Erleichterung, die tägliche Arbeit an dem Film zu beginnen, und Shara war dankbar, dass Peter Garofolo ein hartes Regiment führte, weil der ungnädige Zeitplan sie körperlich erschöpfte. Es war auch gefühlsmäßig gut für sie, sich in die Gedanken der Frau zu versetzen, die sie liebte, und auf Dinge so zu reagieren, wie sie wusste, dass Jessa es tun würde.
Die Rolle von Stephanie war mit Keeley Hawes besetzt – in der bedeutendsten Rolle ihrer bisherigen Karriere –, und Shara war beindruckt von der Art, wie sie die Figur mit Leben erfüllte, was es ihr einfach machte, die unbesonnene Vernarrtheit darzustellen, die Jessa dazu gebracht hatte, alles für Stephanie zu tun, auch wenn es das Ende ihrer Karriere bedeuten sollte – was auch beinahe eingetreten wäre.
Die Massenszenen mit Paparazzi und Blitzlichtern und all den Statisten, die ihr Autogrammbücher entgegenstreckten und sie mit Aufforderungen und Fragen bombardierten waren am schwierigsten, weil sie beinahe zu wirklichkeitsgetreu waren.
Weil sie beinahe in jeder Szene war, arbeitete Shara fast genauso hart wie der Regisseur. Als ihm auffiel, dass Sharas Interesse an dem Film über ihre eigene Rolle hinausging, hieß er sie in seiner Welt willkommen und bat sie um ihre Meinung, während sie sich zusammen die täglichen Rohfassungen anschauten.
Sie vermutete, dass er an mehr interessiert war als nur an ihrer Erfahrung als Schauspielerin, weshalb sie von vornherein deutlich machte,
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