Spaziergang im Regen
Angriff nahmen – besonders wenn das Wetter mal wieder ausgesprochen fürchterlich war.
An manchen Nachmittagen erledigten sie Besorgungen oder gingen einkaufen, und Jessa musste feststellen, dass Shara einen fast schon krankhaften Zwang zum Schuhekaufen hatte. Sie besuchten manchmal Kunstgalerien und einmal eine Ausstellung in der Tate Britain. Ganz egal wie alltäglich etwas auch war, es bekam dadurch eine besondere Bedeutung, dass sie es zusammen machten. Beide fanden, dass die besten Nachmittage die waren, an denen sie einfach zu Hause blieben und sich liebten.
Jessa hatte Elise getroffen und Shara ein paar von Jessa Freunden, aber da die meisten irgendwie mit Musik zu tun hatten, waren sie entweder auf Reisen oder lebten dort, wo ihre Arbeit war. Sie trafen sich am meisten mit Lisa, und als sie alle – Lisa brachte ihren Partner Paul mit – zum ersten Mal zusammen zu Abend aßen, konnte Lisa einfach nicht aufhören zu lächeln, wenn sie Jessa und Shara ansah.
Es war Anfang Februar, und einer von Sharas Lieblingstagen: Sie wachte um halb acht auf, als Jessa zurück ins Bett kam, nach Duschgel duftend und mit noch feuchtem Haar. Sie war joggen gewesen oder beim Yoga – auf jeden Fall roch sie wunderbar und fühlte sich noch besser an. Shara vermutete, dass sie auch wunderbar aussah, aber sie konnte nicht genug Energie aufbringen, um ihre Augen zu öffnen. Als sie wieder wach wurde, schlief Jessa noch, und sie beschloss, sie auf ganz besonders liebevolle Weise zu wecken. Nachdem sie sich geliebt hatten, nahmen sie ein spätes Frühstück zu sich. Jessa schaltete die Stereoanlage an und streckte sich dann mit einem Buch auf der Couch aus. Shara sah, dass es sich um eine Sammlung mit Kurzgeschichten von Jackie Kay handelte, die sie noch nicht gelesen hatte, und nahm sich vor, es von Jessa zu borgen, sobald sie es durchhatte. Nach dem Duschen verließ sie das Haus, für eine Maniküre und Gesichtsbehandlung.
Als sie nach Hause kam, erklang gerade Maria Callas’ Stimme aus den Lautsprechern, mit einer Arie aus Samson et Dalila von Camille Saint-Saëns. Es war eines von Sharas Lieblingsstücken: Mon cœur s’ouvre à ta voix , ›Mein Herz öffnet sich bei deiner Stimme, wie sich Blumen öffnen, wenn die Morgenröte sie küßt‹. Sie hatte so etwas nie erlebt, bis sie Jessa kennenlernte. Aber jetzt, wenn sie getrennt waren und Jessa sie auf ihrem Handy anrief, verlor sie vollkommen den Faden, sobald sie ihre Stimme hörte. Es war so schlimm, dass Elise Jessa klare Anweisungen gegeben hatte, sie nicht anzurufen, wenn sie mit ihr zusammen war.
Shara und Jessa hatten in der ersten Woche des neuen Jahres eine Aufführung dieser Saint-Saëns Oper im Covent Garden besucht, und als die junge Mezzosopranistin in der Rolle der Dalila die Arie vorgetragen hatte, waren Shara die Tränen über die Wangen gelaufen. Sie konnte die mit diesem Lied ausgedrückten Emotionen sehr gut nachvollziehen, weshalb sie tief berührt war, dass diese Arie mit der Absicht gesungen wurde, einen Geliebten anzulocken und dann zu betrügen. Es war das letzte Mal gewesen, dass sie zu einer klassischen Aufführung gegangen waren, weil die besagte Nacht dadurch unterbrochen worden war, dass Fans sie während der Pause erkannt und belagert hatten. Sie hatten zwar nur höfliche Fragen gestellt und Jessa zum Erfolg von Spaziergang im Regen gratuliert, aber es hatte das sofortige Aus für die körperliche Nähe bedeutet, die Shara und Jessa noch während des ersten Aktes genossen hatten, als sich ihre Schenkel berührt und sie diskret unter ihren Mänteln Händchen gehalten hatten. Jessa hatte sich danach nicht mehr auf die Oper konzentrieren können und wie ein kleines Kind herumgezappelt, während Sharas Reaktion genau gegenteilig gewesen war und sie sich vollkommen auf die Handlung auf der Bühne konzentriert hatte, um sich nach ihrer panischen Reaktion zu beruhigen.
Jessa schien nun tief in Gedanken versunken, und Shara fragte sich, ob sie auch durch diese Musik wieder an das einzige Mal erinnert wurde, als sie zusammen öffentlich erkannt worden waren. Sie zweifelte nicht daran, dass das Personal in den Restaurants, in denen sie aßen, sie erkannte, weshalb sie versuchten, jedesmal woanders zu essen. Das hatte zwar zu einer einmonatigen gastronomischen Tour durch London geführt, konnte aber nicht endlos so weitergehen.
»Hiya, Liebling. Alles in Ordnung?«
Jessa lächelte schwach. »Ja. Ich habe nur gerade darüber nachgedacht,
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